Multiperspektivität oder das entschiedene Sowohl als auch
Vor 55 Jahren veröffentlichte Karl Kaiser in einem Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift seinen programmatischen Aufsatz „Transnationale Politik. Zu einer Theorie der multinationalen Politik“,¹ in dem er die Bedeutung transnationaler Beziehungen und zunehmender Interdependenz für die internationale Ordnung und Demokratie analysierte. Kaisers wegweisende konzeptionelle Überlegungen erschienen etwas später auch in der führenden US-amerikanischen Zeitschrift International Organization.²
Für den gerade in Saarbrücken auf seine erste deutsche Professur berufenen Kaiser war diese transatlantische Doppelpublikation eine Selbstverständlichkeit. Er hatte von 1954 bis 1963 in Köln, Grenoble und Oxford breit europäisch studiert und nach seiner Promotion von 1963 bis 1968 fünf Jahre als Forscher an der Harvard University verbracht. Karl Kaiser hätte auf der Basis seiner Überlegungen zur transnationalen Politik eine transatlantische Wissenschaftskarriere verfolgen können. Doch eine solche Engführung wäre nicht im Naturell des geborenen Siegerländers gewesen.
Kaisers Karriere ist eine der Multiperspektivität, des entschlossenen Sowohl als auch. So sehr er die Bedeutung transnationaler Verflechtung betonte, so verlor er nie aus dem Blick, dass „internationale Politik mit ihrem traditionellen zwischenstaatlichen Kampf weitergeht“.³ So sehr er, wie der genannte Aufsatz verdeutlicht, einen wichtigen Beitrag zu theoretischen Debatten der internationalen Beziehungen zu leisten vermochte, so wenig gab er sich mit rein akademischem Wirken zufrieden. Zu groß war seine Leidenschaft für die Praxis. Das zeigte sich schon in Kaisers Lehre. Examensaufgaben bei ihm konnten, wie er 2019 in einem Interview beschrieb, lauten: „Sie sind Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, folgende Situation ist entstanden, bitte machen Sie eine kurze Analyse und eine Empfehlung mit drei Optionen“.⁴
Kaiser scheute nicht vor mannigfaltigen Beratungstätigkeiten für Spitzenpolitiker zurück, ob für Fritz Erler, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder. „Es hat mir immer Freude gemacht, weil ich eben gerne dabei mitwirke, an irgendeinem Problem zu werkeln“, sagte er.5 Er bekannte persönlich Farbe als Sozialdemokrat, bewarb sich sogar einmal um die Nominierung für ein Bundestagsmandat. Gleichzeitig bewahrte Kaiser das Prinzip der Überparteilichkeit in der Arbeit der DGAP und war über Parteigrenzen hinweg angesehen als Experte. Er warf sich furchtlos in politische Debatten, um diese in die richtige Richtung zu lenken, ob in der Nachrüstungsdebatte Anfang der 1980er oder den Auseinandersetzungen um die von der CSU gesäten Zweifel an der Endgültigkeit der Oder-Neiße-Linie 1989.
Kaiser verstand, dass Menschen und Beziehungen das wichtigste Kapital sind. So investierte er viel Zeit in seine eigenen Netzwerke auf beiden Seiten des Atlantiks und des Eisernen Vorhangs – offen für Dialog, ohne sich dabei kommunistischen Machthabern anzubiedern. Er war Mentor für Generationen transatlantisch geprägter Nachwuchskräfte, etwa im Rahmen des McCloy-Programms. Nach dem Fall der Berliner Mauer investierte Kaiser in Beziehungen zu Russland und dessen Think Tank-Vertretern, beispielsweise zu Sergei Karaganov, mit dem er 1997 eine Publikation mit dem Titel „Toward a New Democratic Commonwealth“6 veröffentlichte, welche eine Assoziation demokratischer Staaten unter Einbeziehung Russlands skizzierte.
Spätestens im Februar 2022 stand auch Kaiser vor den Trümmern dieser Investitionen. Zwar hatte er 2014 nach dem Überfall auf die Krim Putins Herrschaftssystem als „autoritäres Regime, geführt von alten KGB- und Sowjeteliten, die von den Oligarchen unterstützt werden“ charakterisiert.7 Doch auch Kaiser rechnete nicht mit Putins Vollinvasion der Ukraine. „Man hat eine Rationalität unterstellt, die offenkundig nicht vorhanden ist“, resümierte er am 24. Februar 2022.8 Hinter dem „man“ versammelt sich ein großer Teil der außenpolitischen Elite Deutschlands, mich eingeschlossen. Kaiser sprach im Interview von einer Zeitenwende, die wenige Tage später durch die Rede des Bundeskanzlers zum Leitbegriff einer außen- und sicherheitspolitischen Kehrtwende in Deutschland wurde. Sein „Democratic Commonwealth“-Ko- Autor Karaganov befürwortete derweil Nuklearschläge auf Westeuropa aufgrund der Unterstützung für die Ukraine.9
Aus diesem Scheitern lässt sich eine wichtige Lehre ziehen: Es kann zu fatalen Fehlschlüssen führen, eigene Vorstellungen von Rationalität auf Anführer autokratischer Großmächte zu übertragen. Und den Fehler, den viele bei Putin gemacht haben, sollten wir bei Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping nicht wiederholen. Wir können nicht davon ausgehen, dass Xi schon keinen Krieg riskieren wird, weil sich Krieg nicht rechnet und wechselseitige Abhängigkeiten bestehen. Nur wenn Xi die nächsten zehn Jahre jeden Morgen aufwacht und sagt: „Ich würde gern meinen Platz in den Geschichtsbüchern mit der Annexion Taiwans zementieren. Aber heute ist nicht der Tag, es ist einfach zu riskant, militärisch und wirtschaftlich“, gibt es die Chance, einen Krieg zu verhindern. Um dies sicherzustellen, muss der Westen weit mehr zur Abschreckung in die Waagschale werfen als im Fall der Ukraine. Dann kann er – wie im Kalten Krieg – aus einer Position der Stärke und funktionierender Abschreckung heraus auch Dialog- und Abrüstungsangebote machen.
Von Karl Kaiser lernen
Heute können wir von Karl Kaisers damaliger Multiperspektivität lernen. Seine Kombination aus einem Verständnis für Machtpolitik sowie transnationale Beziehungen und Interdependenz ist derzeit aktueller denn je. Im Jahr 2000 organisierte ich im Rahmen meines ersten deutschen Think-Tank-Jobs bei der DGAP eine Studiengruppe zum Thema Globalisierung und Weltwirtschaft. Mein damaliger Chef – Kaiser war damals Forschungsdirektor des Hauses – hatte großes Interesse an meiner Arbeit zum damaligen Modethema „Global Governance“, die an seine frühe Forschung zu transnationalen Beziehungen anknüpfte. Gleichzeitig redete er in Besprechungen immer noch viel von Machtpolitik, Raketensprengköpfen und Abschreckung. In meinem institutionalistischen Optimismus der späten 1990er kam mir das anachronistisch vor. Heute ist klar: Es sind meine frühen Annahmen, die aus der Zeit gefallen waren. Im Gegenzug reicht es mittlerweile nicht mehr, die eigene Arbeit einfach großzügig mit den Adjektiven „geopolitisch“ und „geoökonomisch“ zu garnieren und damit zu signalisieren, man sei auf der Höhe der Zeit. Die Multiperspektivität Kaisers ist angesichts der Parallelität von Großmächtekonflikten, tiefen transnationalen Verflechtungen und existenziellen planetarischen Herausforderungen wie der Klima- und Biodiversitätskrise mehr denn je das Gebot der Stunde. Das heißt auch: Internationale Institutionen und multilaterale Kooperation sind kein Gedöns, das einfach weg kann, wenn die neuen Großstrategen über Geopolitik und Geoökonomie sinnieren.
Gleichzeitig gilt es, die Multiperspektivität auf die Höhe der Zeit zu bringen. Es reicht nicht, „Transatlantiker“ zu sein, um erfolgreich deutsche Außenpolitik betreiben zu können. Wir müssen dringend die sehr diversen Perspektiven der nicht-westlichen Welt verstehen lernen – unter anderem mit Blick auf die Folgen des Kolonialismus, die historischen Erfahrungen sowie auf die jeweiligen regionalen strategischen Konstellationen. Die moralische Empörung auf Seiten vieler Transatlantiker, gepaart mit Unverständnis der unterschiedlichen strategischen Überlegungen von Ländern wie Indien, Brasilien und Südafrika gegenüber Russlands Angriffskrieg, macht die Notwendigkeit dafür noch einmal sehr deutlich.
Gerade die deutsche strategic community muss viel mehr in das Verständnis des Nicht-Westens investieren – und sich gleichzeitig auf ein post-amerikanisches Europa vorbereiten, in dem Europa weitgehend allein für seine grundlegende Sicherheit sorgen muss. Donald Trumps zweite Amtszeit markiert auf brutale Weise das Ende des klassischen Transatlantizismus. 2019 mahnte Kaiser, dass wir „das europäisch-amerikanische Verhältnis neu strukturieren müssen mit einem viel größeren Gewicht und mit einer größeren Eigenverantwortung“.10 Leider haben Deutschland und Europa das Geschenk der Biden-Jahre nicht genutzt, um kraftvoll in diese Richtung zu steuern. Umso größer sind heute Verletzlichkeit und Handlungsdruck.
Kaisers Nachfolgerinnen und Nachfolger in der deutschen Außenpolitik sollten sich ein Beispiel an seinem Wirken in der Bonner und Berliner Republik nehmen und sich auch in Debatten einbringen, wenn es unbequem wird. Unbequem ist der neue Normalzustand in der „world of shitty choices“, in der sich Deutschland nach dem Ende der schönen Träume der 1990er wiederfindet. Beim Thema Russland und Ukraine ist dies gut gelungen, oft mit großem Mut, Einsatz und Kosten. Leider ist jedoch etwa bei Lehren aus dem katastrophalen Scheitern der deutschen Netanjahu- Politik ein weitreichendes Versagen der außenpolitischen Community zu verzeichnen. In Zeiten demokratischer Fliehkräfte auch daheim müssen sich außenpolitische Analysten auch viel stärker mit den innenpolitischen (auch fiskalpolitischen) Voraussetzungen außenpolitischen Handelns beschäftigen. Die Zeit, von der Seitenlinie einfach außenpolitische Führung einzufordern, ist vorbei. Fünf Jahre nach der „Mehr Verantwortung“-Rede von Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 201411 resümierte Karl Kaiser messerscharf: „In der Realität ist weder in der politischen Klasse noch im Handeln noch in der öffentlichen Meinung eine große Veränderung eingetreten“.12 Es ist an Kaisers Erbinnen und Erben in Deutschland, mitzuhelfen, dass die Bilanz zu „fünf Jahre Zeitenwende“ im Jahr 2027 nicht ähnlich desaströs ausfällt.
[1] Karl Kaiser, „Transnationale Politik. Zu einer Theorie der multinationalen Politik“, in: Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.), Die anachronistische Souveränität, Politische Vierteljahresschrift, Bd. 1/1969, Wiesbaden 1969, S. 80 – 109.
[2] Karl Kaiser, „Transnational Politics: Toward a Theory of Multinational Politics“, in: The IO Foundation/Cambridge University Press. International Organization. Bd 25/Ausgabe 4, 1971, S. 790 – 817.
[3] Vgl. Kaiser, Transnational Politics, S. 816.
[4] Karl Kaiser, Interview im Deutschlandfunk, „Die Wahrheit gibt es für den US-Präsidenten nicht mehr“, 27.06.2019, https://www.deutschlandfunk.de/transatlantiker-karl-kaiser-die-wahrheitgibt-es-fuer-den-100.html/nationale-sicherheitsstrategie-data.pdf (zuletzt abgerufen am 15.11.2024).
[5] Ebd.
[6] Graham Allison, Karl Kaiser, Sergei Karaganov, Toward a New Democratic Commonwealth. Bertelsmann Stiftung, 1997.
[7] Karl Kaiser, „Kennedy School prof. reflects on Ukraine crisis“, The Brandeis Hoot, 31.10.2014, https://brandeishoot.com/2014/10/31/dr-karl-kaiser-of-kennedy-school-speaks-on-theukraine-crisis (zuletzt abgerufen am 15.11.2024).
[8] Karl Kaiser, Interview im Deutschlandfunk, „Putins Angriff auf die Ukraine: Eine neue Spielart des Kalten Kriegs“, 24.02.2022, https://www.deutschlandfunk.de/interview-zum-krieg-in-der-ukraine-mit-prof-karl-kaiser-harvard-university-dlf-dbf99c09-100.html (zuletzt abgerufen am 15.11.2024).
[9] Sergei A. Karaganov, „A Difficult but Necessary Decision“, Russia in Global Affairs, 13. Juni 2023, https://eng.globalaffairs.ru/articles/a‑difficult-but-necessary-decision/ (zuletzt abgerufen am 15. November 2024).
[10] Vgl. Kaiser, Interview im Deutschlandfunk, 27.06.2019.
[11] Joachim Gauck, Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen, Münchner Sicherheitskonferenz, 31.01.2014, https://www.bundespraesident. de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/01/140131-Muenchner-Sicherheitskonferenz.html (zuletzt abgerufen am 15.11.2024).
[12] Vgl. Kaiser, Interview im Deutschlandfunk, 27.06.2019.
This piece originally appeared in the collection Ways Into the Future: Perspectives for Foreign Policy, a commemorative volume published in honor of Karl Kaiser by the German Council on Foreign Relations (DGAP).
An English version is available.