Rüstungswahn oder Realpolitik? Warum Wehrfähigkeit mehr als nur eine Zahl ist
Seit Russlands Überfall auf die Ukraine diskutiert Deutschland wieder über die eigene Wehrfähigkeit. Manche Beobachter wittern gar eine „seltsame Begeisterung für das Militärische“ – so auch der Leiter des Budapester Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung Ernst Hillebrand. Der Berliner „Blob“ habe derzeit nur eine Botschaft, schrieb Hillebrand jüngst in der IPG: „mehr Waffen, mehr Soldaten, mehr Geld für Rüstung“ – sonst, so die Berliner Blase, „kommt der Russe“. Dabei sei die NATO Russland „um ein Vielfaches überlegen“, während Moskau derzeit auf den Schlachtfeldern der Ukraine „ausblutet“.
Was ist da los? Befindet sich das Land tatsächlich im Würgegriff einer neuen Aufrüstungseuphorie, die jeder Grundlage entbehrt? Ernst Hillebrand dürfte stellvertretend für jene sprechen, die sich von der sogenannten Zeitenwende überrumpelt fühlen und höhere Verteidigungsausgaben ablehnen.
Nur: Ganz so einfach ist es nicht. Offensichtlich geben die NATO-Staaten gemeinsam viel mehr Geld für ihre Verteidigung aus als Russland – insgesamt fast dreizehn Mal so viel und immerhin noch dreimal so viel, wenn man die Ausgaben der USA vom gesamten NATO-Etat abzieht. Doch daraus ergibt sich noch lange keine praktische Überlegenheit. Wenn es darum geht, plausiblen Bedrohungsszenarien die Stirn zu bieten, lautet die entscheidende Frage nicht, wie viel Geld die NATO-Staaten in absoluten Zahlen bereits ausgeben. Sie lautet: Wie einsatzfähig sind die NATO-Streitkräfte gegen Russland? Und hier müssen wir feststellen: Bei einer spontanen Konfrontation mit Russland wären die Armeen der Allianz lange nicht so effektiv, wie es die großen Zahlen auf den ersten Blick suggerieren. Und das liegt vor allem an Europa.
Um nur drei Beispiele zu nennen: Die europäischen Lücken und Defizite in kritischen Bereichen wie der See- und Luftverteidigung sind dramatisch groß. Es fehlt an wichtiger Artilleriemunition und an Raketen. Und die Kooperation zwischen den europäischen NATO-Partnern ist mangelhaft. In all diesen Bereichen sind die europäischen NATO-Staaten maßgeblich auf US-amerikanische Hilfe angewiesen. Und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die Washingtoner Denkfabrik CSIS schätzt die Einsatzfähigkeit der europäischen Streitkräfte in uni- und multilateralen Kampfeinsätzen ohne die USA als sehr niedrig ein – und das noch bis mindestens 2030. Das sind noch ganze zwei Präsidentschaftswahlen um ein Amt, das schon im Herbst von einem ausgesprochenen NATO-Kritiker übernommen zu werden droht. Doch egal, ob zweite Trump-Präsidentschaft oder nicht: Europa wird sich zwangsweise eine eigenständigere und nachhaltigere Verteidigungspolitik zulegen müssen. Die USA orientieren sich schon seit Jahren in Richtung Asien, was sich auch deutlich in den amerikanischen Verteidigungsausgaben widerspiegelt. Europa muss dringend mehr eigene Initiative im Bereich Sicherheit zeigen, um die Amerikaner davon zu überzeugen, ihr unabdingbares Engagement in Europa aufrecht zu erhalten. Ohne letzteres wäre das „Rückgrat von Europas Verteidigung gebrochen“. Auch die European Defence Agency (EDA) hat festgestellt, dass die Unterfinanzierung der europäischen Streitkräfte zwischen 2009 und 2018 große Schäden im Bereich der Streitkräfteintegration verursacht und die Fähigkeitslücken zwischen den verschiedenen Armeen vergrößert hat. Die Coronapandemie hat dies noch verschlimmert, da gemeinsame Trainings und Kooperationen weiter zurückgefahren werden mussten.
Technologische Unterschiede, zu wenig gemeinsame Trainings, Ineffizienz im Beschaffungswesen, kritische Abhängigkeit von den USA: Der absolute Verteidigungsetat der europäischen NATO-Partner reflektiert kaum ihre Einsatzfähigkeit. Als Maß für die Chancen der Allianz bei einer möglichen Konfrontation mit Russland taugt er daher nichts. Im Gegenteil, um im Ernstfall handlungsfähig zu sein, müssen Deutschland und andere EU-Länder mehr und effizienter investieren – um die Unterfinanzierung der letzten Jahre auszugleichen, die europäische Verteidigungsindustrie zu stärken, sowie neue Ausrüstung anzuschaffen. Und im Gegensatz zu uns muss Russland keine durch Unterfinanzierung selbstverschuldeten Löcher flicken – auch das untermauert die Notwendigkeit der hohen Verteidigungsausgaben.
Aber was ist mit dem Argument, Russland sei doch in der Ukraine gebunden? Stellt das Land so überhaupt eine reale militärische Bedrohung für den Westen dar? Ja, tut es. Die anfänglich dynamische Situation – große Landgewinne durch Russland, dann schnelle Rückeroberung großer Teile durch die Ukraine – hat sich zu einem zunehmend statischen Frontverlauf mit kontinuierlichen russischen Offensiven entwickelt. Auch das „Ausbluten“, das Hillebrand zu beobachten glaubt, ist angesichts der demografischen Ressourcen Moskaus nicht realistisch: Der russische Staat betrachtet derzeit 25 Millionen Menschen in Russland als potenzielle Reserve für den Ukrainekrieg – und nimmt damit in Kauf, dass der Großteil von ihnen auf dem Schlachtfeld sterben könnte. Das ist kein Ansatz, den sich die NATO-Staaten leisten können oder sollten. Die hohen Mobilisierungsraten Russlands dienen nicht nur Putins Zielen im Ukrainekrieg, sondern auch einer langfristigen Konfrontationsstellung Russlands gegenüber dem Westen. Russland rüstet weiter fleißig auf und wird dabei militärisch und wirtschaftlich von Iran, Nordkorea und China unterstützt. Der Glaube, dass Moskau durch die hohen Todeszahlen russischer Soldaten und das Ausbleiben von großen Landgewinnen in der Ukraine verunsichert und in seinen regionalen und globalen Expansionsambitionen abgeschreckt würde, ist schlicht fehlgeleitet. Genau diese Haltung aber ist es, die Teile der deutschen Politiklandschaft seit Beginn des Ukrainekriegs hemmt: ein verklärtes Hoffen, dass man nur lang genug ausharren müsse, bevor alles wieder zum Status quo ante zurückkehrt. Die Realität aber ist, dass ein revisionistisches Land mit Großmachtansprüchen eine langfristige Strategie der Konfrontation verfolgt und Europa derzeit nicht allein in der Lage wäre, sich dagegen zu wehren. Auch diese Tatsache muss in die Kalkulation aller, die es, wie Hillebrand schreibt, „mit faktenbasierter Politik“ halten, einfließen.
Dass Deutschland seine Kapazitäten ausbaut, ist nicht optional, sondern zwingend notwendig, um die Sicherheit des gesamten NATO-Bündnisses zukünftig und über den Krieg in der Ukraine hinaus zu garantieren. Die hohen Verteidigungsausgaben der europäischen Staaten dürfen nicht als automatischer Erfolgsgarant gegen Russland gelesen werden – schon gar nicht, wenn sich die USA weiter von Europa abwenden. In diesem Fall sind die europäischen NATO-Staaten und Deutschland, wenn sie jetzt nicht die richtigen Investitionen für die Zukunft treffen, kaum in der Lage, sich gegen russische Kriegshandlungen gegen das eigene Territorium zu schützen.
Russland ist kein potenzieller Partner mehr und auch kein bloßes Ärgernis, sondern eine ernstzunehmende Bedrohung für Deutschlands östliche Bündnispartner und damit auch für uns. Russland hält mit seinen Ambitionen und Zielen nicht hinterm Berg – im Gegenteil, Putin formuliert sie klar und deutlich. Wir müssen zuhören und entsprechend reagieren. Mehr Investitionen in Verteidigungs- und, ja, Kriegsfähigkeit sind dabei einer von vielen, aber doch ein unabdingbarer Schritt – zumindest für diejenigen, die es mit einer faktenbasierten Politik halten wollen.