Commentary

Debatte um ukrainischen Waffeneinsatz: Der menschliche Preis der Besonnenheit

Balbon 2024 Ukraine Preis der Zoegerlichkeit
Ukrainian flags fly over the gravesites of fallen Ukrainian soliders at Kharkiv city cemetery in Ukraine in February 2023.  | Photo: podyom / Shutterstock
24 Jun 2024

Nun also doch: die Ukraine darf in der Region um Charkiw vom Westen gelieferte Waffen nutzen, um militärische Ziele in Russland zu bekämpfen. Der größte Profiteur dieser Entscheidung ist die lokale Zivilbevölkerung, denn der potenzielle Einsatz westlicher Flugabwehr im russischen Luftraum beschränkt die Bewegungsfreiheit der russischen Luftwaffe und schützt Charkiw besser vor russischen Raketen und Gleitbomben. Obwohl die Entscheidung somit Leben retten wird, ist vielen Ukrainer*innen nicht zum Feiern zumute. Denn die Zögerlichkeit, mit der sie getroffen wurde, offenbart ein Muster westlicher – und insbesondere deutscher – Entscheidungen, wenn es um die Ukraine geht: Das Land zahlt den Preis für unsere Zaghaftigkeit mit Blut und zerstörten Existenzen.

Bundeskanzler Olaf Scholz stellt seine Zögerlichkeit bei der Freigabe von Waffenlieferungen gerne als Besonnenheit dar. Die Botschaft des Kanzlers ist einfach: Ich ringe um die richtige Balance zwischen unserer Unterstützung für die Ukraine und der Vermeidung einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland. Damit ist der Kanzler in guter Gesellschaft, denn auch US-Präsident Joe Biden betont stehts, dass Anti-Eskalation sein primäres Kriegsziel ist. Während manche dieses Verhalten als pragmatischen Drahtseilakt feiern, bezeichnen es andere als zynisches Kalkül: Aus Angst vor einer russischen Kurzschlussreaktion liefere der Westen zwar genug Kriegsmaterial, damit die Ukraine die Front unter Hinnahme hoher Verluste weitestgehend halten kann, aber nicht genug, um ihr zu erlauben, signifikante Fortschritte zu machen oder gar den Krieg zu gewinnen. Was den Kanzler schlussendlich bewegt, lässt sich von außen nicht abschließend beurteilen. Sehr wohl können wir allerdings die Folgen seiner Zögerlichkeit beobachten, welche nicht nur das ukrainische Militär, sondern auch die dortige Zivilgesellschaft zu spüren bekommen.

Die derzeitige Offensive in Charkiw ist hierfür ein gutes Beispiel. Zwar konnten die ukrainischen Streitkräfte Russlands Vorstoß inzwischen stoppen, davor attackierte und besetzte die russische Armee allerdings Orte, die erst vor eineinhalb Jahren von der ukrainischen Armee befreit wurden. Das bedeutet, dass jene Menschen, die 2022 entweder ein halbes Jahr lang unter russischer Besatzung lebten oder nach der Flucht zurückgekehrt sind, um ihre Städte nach der Befreiung wiederaufzubauen, nun erneut unter russischer Okkupation leben – mit all ihren bekannten Folgen. So sehen wir mittlerweile Bilder aus kürzlich besetzen Teilen der Stadt Wowtschansk, die uns an Bucha in 2022 erinnern. Gleichzeitig nutzt Russland die Sicherheit seines eigenen Luftraums dafür, tonnenschwere Gleitbomben auf militärische und zivile Ziele abzuwerfen. Inzwischen vergeht kein Tag in Charkiw ohne neue russische Kriegsverbrechen. Und die schlimmste Zerstörung steht der Stadt möglicherweise noch bevor, auch wenn der russische Angriff vorerst zum Erliegen gekommen ist. Sollte es die russische Armee irgendwann schaffen, ihre Artillerie in Reichweite der Stadt zu platzieren, drohen der Charkiw neue Wellen von Bombardierungen. Um es mit den Worten einer befreundeten Friedensforscherin aus Charkiw zu sagen: Wenn es so weit kommt, werden wir das nächste Aleppo“.

Militäranalyst*innen gehen davon aus, dass ukrainische Verteidigungsstellungen im Norden Charkiws schlecht auf den russischen Angriff vorbereitet waren. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass der Angriff auch deshalb stattfinden konnte, weil sich Deutschland und die USA lange dagegen wehrten, der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen gegen russische Ziele hinter der Grenze zu erlauben. Die Zeit, die wir brauchten, um diesen inneren Widerstand zu brechen, haben viele Ukrainer*innen mit ihrem Leben bezahlt. Diese Zögerlichkeit setzt ein bekanntes Muster der deutschen Ukrainepolitik fort: Wir diskutieren ausgiebig die vermeintlichen Gefahren einer stärkeren Unterstützung, nur um sie schlussendlich doch zu gewähren. Dies wirft die Frage auf, warum wir immer wieder den menschlichen Preis unserer Vorsicht in Kauf nehmen, nur um am Ende doch nachzugeben.

Zur ehrlichen Antwort auf diese Frage gehört die Feststellung, dass wir in Realität eben nicht zwischen Anti-Eskalation und einer stärkeren Unterstützung der Ukraine wählen müssen. Gemeinsam mit seinen NATO-Partner*innen könnte Deutschland beispielsweise Teile des westukrainischen Luftraums schützen, ohne dafür NATO-Flugabwehr in der Ukraine stationieren zu müssen. Die Ukraine verhindert mit ihrer eigenen Flugabwehr bereits jetzt, dass russische Flugzeuge in den westukrainischen Luftraum eindringen. Die NATO müsste also nur russische Raketen und unbemannte Drohnen abschießen – eine Eskalationsgefahr ist entsprechend gering. Von deutscher Regierungsseite bräuchte es lediglich den Mut, um diesen Vorschlag durch den Bundestag zu bringen und gegen den dort erwartbaren Widerstand durchzusetzen. Der Ukraine würde es ein solches Vorgehen jedoch erlauben, ihre eigene Flugabwehr in den Süden und Osten des Landes zu verlegen, um dort ihre Bevölkerung besser zu schützen. Damit wäre ein erheblicher Beitrag zur Verteidigung des Landes geleistet.

Das Beispiel zeigt, dass proaktive Lösungen, welche uns nicht in eine unkontrollierbare Eskalationsspirale bringen, möglich sind. Jedoch müssen die Bundesregierung und ihre westlichen Partner*innen sie endlich mit Courage angehen, anstatt unsere Zeit in endlosen Debatten über vermeintliche rote Linien zu verschwenden. Denn egal wie wir es drehen oder wenden: Unsere Zögerlichkeit bezahlen die Ukrainer*innen mit ihrem Leben – und das nicht nur in Charkiw.