Ukraine-Krieg: Das Wichtigste haben wir noch nicht gelernt
Diese Woche besucht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Deutschland — zunächst den Bundeskanzler in Berlin, dann die Münchner Sicherheitskonferenz. Die Stimmung ist deutlich schlechter als vor einem Jahr. Kurz vor dem zweiten Jahrestag der russischen Vollinvasion der Ukraine hat Ernüchterung eingesetzt: Nicht nur ist der Krieg noch nicht vorbei, sondern Kiew wird sich dieses Jahr aller Voraussicht nach auf Verteidigung konzentrieren müssen, statt weitere Gebiete zu befreien. Es mehren sich die pessimistischen Stimmen: Wo soll das alles angesichts fehlender Munition und einer drohenden zweiten Amtszeit Donald Trumps hinführen?
Diese Ernüchterung hat, wenn wir ehrlich sind, mehr mit uns zu tun als mit der Ukraine, denn es ist recht klar, was von westlicher Seite geschehen muss, damit Kiew seine Stellungen halten und wieder in die Offensive kommen kann: mehr Munition, mehr Waffen und Ersatzteile, ein langfristiger Plan für Lieferungen. Deutschland ist dabei, wenn auch gemächlich, in Bewegung gekommen. Gleichzeitig einen langen Atem haben für einen Krieg, der noch Jahre dauern kann, und ein Gefühl von Dringlichkeit für die weitere, schnellere Unterstützung nicht verlieren: Das müssen wir jetzt lernen.
So wie Deutschland sehr vieles gelernt hat in den letzten zwei Jahren. Zunächst einmal ist es heute einer der wichtigsten Unterstützer der Ukraine, sowohl finanziell als auch militärisch. Wie so häufig war Berlin dabei reichlich spät und lässt sich auch immer noch seine Zeit mit einzelnen Entscheidungen, Stichwort Taurus. Aber man ist gründlich, so zumindest sehen die derzeitigen Pläne von Bundeskanzler Olaf Scholz aus. Es besteht immer noch eine gesellschaftliche Mehrheit für Waffenlieferungen und finanzielle Hilfen. Das heißt, es gibt durchaus ein breites Verständnis, dass Russland die größte Bedrohung Europas bleibt.
Aus Fehlern deutscher Russland-Politik lernen
Aber, und damit zu den Dingen, die Berlin noch nicht gelernt hat, eine echte Aufarbeitung der deutschen Russland-Politik gab es bislang nicht. Es gibt keine Enquete-Kommission, keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss oder dergleichen, der die Gründe, Annahmen und Methoden einer spektakulär gescheiterten Politik gegenüber Russland nachvollzieht, die Deutschlands Sicherheitsinteressen massiv verletzt hat. Dabei kann dieser Prozess Transparenz schaffen und ermöglichen, dass die Politik aus Fehlern lernt, konkret für Russland und darüber hinaus. Und er kann zum nächsten, wichtigen Schritt befähigen: die Entwicklung einer neuen Russland-Strategie, die auf Abschreckung und Eindämmung beruht. Eine neue, darauf basierende Rhetorik hat sich bereits in der Nationalen Sicherheitsstrategie etabliert. Nun muss die Politik sie mit Leben füllen.
Der Fokus deutscher Politik sollte klar auf der Ukraine liegen. Gleichzeitig kann Berlin, im Rahmen unserer Allianzen und gemeinsam mit Partnern, die schon früher weniger Illusionen über Moskau gehegt haben, einen Plan für eine langfristige Russland-Politik entwickeln, die uns schützt und klare Handlungsmaximen festlegt. Das ist wichtig, um nicht Gefahr zu laufen, allein schon aus Mangel an Alternativen in alte Muster zu verfallen.
Zum Zweiten hat Deutschland noch nicht gelernt, was Ukrainerinnen und Ukrainer seit zwei Jahren erfahren: Zukunft ist jetzt. In Kiew erlebt man jeden Tag, wie Menschen trotz der Unsicherheit, die der Krieg bedingt, weitermachen, sich weiterbilden, umziehen, ihre Wohnung renovieren, Kinder kriegen. Die Bewohner von Butscha bauen laufend neue Fenster ein, um die während der Besatzung zerstörten Scheiben zu ersetzen. Sie warten nicht, bis der Krieg vorbei ist, der sie eventuell wieder zerstören kann. Denn in der Ukraine gibt es eine Vision für ihre langfristige Zukunft — in Frieden, in der EU, in der NATO. Auch wenn diese Zukunft kurz- und mittelfristig nicht immer erreichbar erscheint.
Es kommt auch auf Deutschland an
Wir haben eine solche Vision nicht. Ja, die Ukraine soll Teil der EU werden. Für so einen Schritt müsste sie zur dauerhaften Abschreckung Russlands befähigt werden. Doch dafür gibt es, zumindest öffentlich, keinen Plan. Der Kanzler hat gesagt, was er nicht will: Die NATO soll nicht in den Krieg gezogen werden, Russland soll nicht gewinnen, die Ukraine nicht von der Landkarte verschwinden. Was fehlt, ist eine positive Agenda. Was stellt man sich im Kanzleramt realistisch und langfristig für die unabhängige Ukraine vor? Sollte es dort Antworten auf diese Frage geben, werden sie nicht kommuniziert.
Und somit zur vermutlich wichtigsten Lektion des Krieges, die wir immer noch nicht gelernt haben: Es hängt auch von Deutschland ab, wie er weitergeht. Das ist schwierig aufzuschreiben, da es Ukrainer und Ukrainerinnen sind, die ihre Leben und ihre Zukunft für ihr Land opfern. Doch durch die Waffen und Munition, die wir liefern — und jene, die wir nicht liefern — sind wir es, die den Rahmen dafür setzen, wie es weitergeht. Wenn es so weitergeht, wie gerade: Dann wird Russland Stück für Stück und unter hohem Blutzoll weiter vorrücken, vor allem in der Ostukraine. Die Ukraine wird nicht morgen fallen und die russische Armee wieder auf Kiew marschieren, aber der Handlungsspielraum der Ukraine würde mit jedem Tag weiter eingeschränkt. Wir müssen das derzeit verlorene Dringlichkeitsgefühl wiederbeleben. Die kritischen Entscheidungen werden jetzt gefällt. Ja, alle fürchten eine zweite Amtszeit Trumps — aber allein bis zur Wahl sind es noch neun lange, wichtige Monate.
Die Erkenntnis, dass wir ein relevanter Akteur sind und der Ukraine Möglichkeiten verschaffen können, ihre Verteidigung auszubauen und in der Zukunft wieder die Initiative zu ergreifen, sollte uns nicht in Panik versetzen, sondern Handlung auslösen. Wir können etwas tun: langfristige Abnahmeverträge mit der Rüstungsindustrie schließen, um Munitionsnachschub zu garantieren, endlich Taurus liefern, eine langfristige Vision entwickeln. Und die Hoffnung bewahren. Das können wir von der Ukraine lernen.
This commentary was first published by n‑tv.de on February 15, 2024.