Commentary

Krieg gegen die Ukraine: Das soll ein Sieg sein?

Benner 2023 Das soll ein Sieg sein zeit online
Photo: Taine Noble / Unsplash
27 Nov 2023, 
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ZEIT ONLINE

Nach einer Diskussion über Deutschlands strategisches Umfeld sagte eine Kollegin aus einem befreundeten Institut im Gespräch beim Herausgehen, man fühle sich gerade wie im perfekten Sturm”. Es ist ein großes Verdienst des von Nico Lange und Carlo Masala in ihrem ZEIT-ONLINE-Beitrag skizzierten Szenarios, sehr eindringlich zu veranschaulichen, dass es in absehbarer Zukunft um ein Vielfaches stürmischer werden kann, etwa mit einem gleichzeitigen Angriff Russlands auf das Baltikum und Chinas auf Taiwan. Welche Investitionen nötig sind, ein solches Szenario zu verhindern und gleichzeitig dafür gewappnet zu sein, sollte im Zentrum unserer sicherheitspolitischen Diskussion stehen.

Wenig hilfreich dabei ist es jedoch, dieses Szenario rein an den Ausgang des russischen Angriffskriegs zu koppeln (“Falls Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gewinnt, ist dieses Szenario realistisch.”). Besonders problematisch ist die Metrik, die Lange und Masala für den russischen Sieg ansetzen: Gewinnen verstehen wir dabei als einen Zustand, in dem im Rahmen von Verhandlungen oder als Resultat der militärischen Realitäten auf dem Boden, Russland die Teile des Territoriums der Ukraine, die es gegenwärtig besetzt hält, faktisch dauerhaft zugeschlagen bekommt oder noch darüber hinaus weitere Gebiete erobert.”

Das ist ein falscher Maßstab, weil er Putin einen Sieg zubilligt, der keiner ist. Nähmen wir als Gedankenexperiment an, für die nächsten Jahre würden sich die heute bestehenden Gebietskontrollverhältnisse verfestigen. Hätte der Kreml dann wirklich gewonnen?

Aktuell kontrolliert Putin nicht einmal all die Gebiete, die er bereits annektiert hat. Die Ukraine hat Russland aus 50 Prozent der nach dem 22. Februar 2022 eroberten Gebiete vertrieben. Finnland mit einer großen Grenze zu Russland ist Nato-Mitglied geworden. Die Ukraine ist auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft. Der Kreml hat sich des Zugangs zu westlichen Ökonomien und Innovationssystemen beraubt und von China abhängig gemacht. Von den Zigtausenden russischen Toten und Verwundeten ganz zu schweigen. Das soll ein Sieg sein?

Auch der Umkehrschluss aus dieser Annahme ist höchst fragwürdig: Die Ukraine hat verloren, solange Russland auch nur einen Quadratkilometer des ukrainischen Staatsgebiets (inklusive Krim) kontrolliert. Sicherlich hat die Ukraine schon jetzt viel zu viele Menschen, Wohlstand und auch Land verloren. Jeder Quadratkilometer unter Kontrolle des Kremls ist einer zu viel und eine vollständige Befreiung ist mehr als wünschenswert. Aber ist dies angesichts der Grundparameter dieses Krieges in absehbarer Zeit auch ein realistisches Ziel?

Das oberste Kriegsziel der USA und der wichtigsten Nato-Staaten ist, dass die Nato nicht direkt in den Krieg mit der Nuklearmacht Russland hineingezogen wird und dass die eigenen Soldatinnen und Soldaten nicht aktiv eingreifen. Diese grundlegende Setzung der Nato hat für die Ukraine höchst brutale Konsequenzen: Auf dem Schlachtfeld sind die Ukrainer ganz allein. Und aufgrund von Sorgen über Eskalationsrisiken erhalten sie auch von den mächtigsten Nato-Mitgliedsstaaten nicht alle für den Kampf nötigen Waffensysteme. Und weil Europa nicht entschlossen die Produktion hochgefahren hat, bekommt die Ukraine aktuell noch nicht einmal genug banale Artilleriemunition für den Kampf gegen einen von der Bevölkerungszahl dreifach überlegenen Gegner. Hinzu kommt, dass innenpolitische Entwicklungen in den USA und auch Europa nahelegen, dass die Unterstützungsbereitschaft für die Ukraine den Zenit überschritten hat.

Wer angesichts dieser Grundbedingungen die Latte für den ukrainischen Sieg bei der kompletten Befreiung aller Gebiete inklusive der Krim anlegt, betreibt kein realistisches Erwartungsmanagement. Jeder sollte sich zudem einmal an sein vorheriges Selbst Anfang März 2022 erinnern. Damals hätte den meisten das schiere Überleben der Ukraine als souveräner Staat mit funktionierender Regierung in Kiew als Sieg gegolten. Nun hatten damals die meisten die russischen Streitkräfte überschätzt und die Ukraine unterschätzt. Doch sollten wir uns fragen, ob wir diese Annahmen in der Zwischenzeit nicht überkorrigiert haben und auch deshalb zu einem Maßstab gekommen sind, der alles andere als die weitgehende oder gar vollständige Rückeroberung aller Gebiete durch die Ukraine als Niederlage charakterisiert.

Es wird mit Russland keine Ruhe geben

Nun leitet Lange und Masala wahrscheinlich die gute Absicht, mehr unmittelbare Unterstützung für die Ukraine zu mobilisieren in der deutschen Öffentlichkeit, wenn sie vor den Gefahren eines so definierten russischen Siegs warnen und gleichzeitig mit dem Schub an Sicherheit, Wohlstand und globaler Geltung” locken, den sie Deutschland und Europa im Falle der vollständigen Befreiung der Ukraine in Aussicht stellen. Die schlechte Nachricht ist: So wünschenswert diese Befreiung ist, sie würde allein die europäische Friedensordnung nicht wiederherstellen. Solange im Kreml ein Herrscher (ob Putin oder Nachfolger) sitzt, der eine imperial-revisionistische Agenda verfolgt, sind jegliche Grenzen ständig bedroht und müssen durch Abschreckung verteidigt werden. Es wird dann auch mit der Rückeroberung aller von Russland völkerrechtswidrig besetzen Gebiete keine Ruhe geben.

Und wir können auch nicht darauf vertrauen, wie Lange und Masala nahezulegen scheinen, dass eine komplette Vertreibung Russlands zum Sturz eines von Putinschen Gedanken getriebenen Kreml-Regimes führen wird. Es kann gut sein, dass in Moskau auf längere Zeit ein revanchistisches Regime herrscht, das jede Grenze als temporär ansieht. Es kommt deshalb so oder so darauf an, dass Russland von weiteren Angriffen effektiv abgeschreckt wird, egal wo der faktische Grenzverlauf ist. Putin und seine ideologischen Wiedergänger stellen sich auf den langen Krieg ein, wie der russische Herrscher jüngst bei einer Rede beim Waldai-Klub deutlich machte. Wir müssen es auch. Nicht zuletzt angesichts der politischen Entwicklungen in den USA heißt dies, das Deutschland und Europa sehr schnell viel mehr in die eigene Abschreckungsfähigkeit gegenüber Russland investieren müssen – und auch in die der Ukraine, egal wo sich der Grenzverlauf verfestigt.

Sollte sich als Resultat von Verhandlungen oder des Kriegsverlaufs ein Zustand herauskristallisieren, in dem Russland (ohne Anerkennung durch den Westen) weiterhin Teile ukrainischen Staatsgebietes kontrolliert, müssen Deutschland und Europa einen Weg finden, eine auch unter diesen Bedingungen so erfolgreich wie mögliche Ukraine zu unterstützen. Schön ist das alles nicht und es wird denkbar schwer. Doch wir stellen uns besser auf dieses Szenario ein, weil es nicht unwahrscheinlich ist unter den absehbaren Gegebenheiten.

Abschreckung als Friedenspolitik

Die US-Historikerin Mary Elise Sarotte formuliert die Hoffnung, dass die Ukraine die BRD des 21. Jahrhunderts wird” und die Erwartung, dass der Westen der Ukraine hilft, Grenzen zu etablieren, die sich dauerhaft verteidigen lassen”. Nun ist diese Analogie alles andere als unproblematisch – und eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine kann nur dann infrage kommen, wenn sich die Nato-Mitgliedsländer absolut sicher sind, dem russischen Regime damit nicht den Schlüssel in die Hand zu geben, die wichtigste Ressource der Nato zu zerstören: die Glaubwürdigkeit der Beistandsverpflichtung. In jedem Fall sollten Europa und die USA Durchhaltefähigkeit bei den Sanktionen demonstrieren auch als Signal gegenüber anderen Staaten mit territorialem Appetit (insbesondere China).

Klar ist zudem, dass die Ukraine noch weit stärkere Investitionen in die Luftverteidigung braucht. Nur so lassen sich verlässlich wirtschaftliche Aktivität und Investitionen in den Wiederaufbau absichern. Gleichzeitig sollte die Ukraine so schnell wie möglich in der Lage sein, eigene Raketen mit Reichweite weit in russisches und russisch kontrolliertes Territorium in größerer Zahl zu produzieren. Die Ukraine muss in der Lage sein zu versuchen, Russland mit Raketenangriffen zu zermürben. Und weil die USA und Verbündete die dafür nötigen Raketen nicht in größerer Stückzahl liefern, aus Angst vor Eskalation, muss die Ukraine diese selbst produzieren lernen.

Darüber hinaus müssen wir die Engführung der Diskussion um die sicherheitspolitischen Herausforderungen auf den Ausgang des Kriegs gegen die Ukraine vermeiden. Lange und Masala behaupten, eine fortwährende Kontrolle Russlands über ukrainisches Territorium würde das Ende der Welt, wie wir sie kennen, einläuten. Der Westen als Garant für Stabilität, Sicherheit und Ordnung wäre desavouiert.”

Ein Wahlsieg Donald Trumps im nächsten Jahr hätte darauf größere Auswirkungen als eine längerfristige Kontrolle der Krim oder Teilen des Donbass durch Russland. Zudem hängt die Frage, ob China von Gewaltanwendung gegenüber Taiwan oder anderen Nachbarn im Südchinesischen Meer abgeschreckt wird, nicht primär am Ausgang des russischen Angriffskriegs. Abschreckung als Friedenspolitik müssen wir deshalb dringend auch mit einer indopazifischen Komponente denken, weil die Auswirkungen eines Kriegs um Taiwan auch für Deutschland weitreichender wären als die des russischen Feldzugs gegen die Ukraine.

Unstrittig sollte eines sein (und das ist es auch zwischen mir und Nico Lange und Carlo Masala): Weit größere Investitionen in die sicherheitspolitische Wetterfestigkeit Deutschlands und Europas sind vonnöten. Und zwar schnell. Und dabei haben wir noch nicht einmal über die Folgen der Klimakrise gesprochen.


This commentary was first published on ZEIT ONLINE on November 272023.