Commentary

Überwindung der Krise im Libanon: Viel zu gewinnen

Hensing Li 2022 lebanon elections
Source: Charbel Karam /​Unsplash
09 Aug 2022, 
published in
Frankfurter Rundschau

Weitgehend abseits der europäischen Aufmerksamkeit wurde im unter einer dramatischen Wirtschaftskrise leidenden Libanon im Mai gewählt. Ein gutes Dutzend reformorientierter Kandidat:innen aus neuen Parteien schaffte den Einzug ins 128-köpfige Parlament. Dies allein wird keinen schnellen Wandel bewirken, eröffnet aber eine Chance auf neuen Schwung zur Überwindung der verkrusteten Strukturen, die Ursprung der Krise sind. Ausländische Akteure wie Deutschland können dabei helfen, indem sie Unterstützungsangebote konsequent an Bedingungen knüpfen und Mut zum Wandel zeigen.

2019, als das Kartenhaus staatlicher Überschuldung krachend zusammengefallen war, schien kurz vieles möglich. Eine konfessionsübergreifende Protestbewegung mobilisierte mit weitreichenden Reformforderungen, auch über die Studierendenviertel Beiruts hinaus. Doch gewaltsame Repression, politische Diskreditierung und Corona-Einschränkungen brachten die Proteste zum Erliegen. Die Beiruter Hafenexplosion verstärkte das Gefühl der Ohnmacht, zudem verschärfte die Notlage die Abhängigkeit der Bevölkerung von politischer Patronage.

Wichtige Innovationen der Protestbewegung strahlen heller

Vor diesem Hintergrund ist jeder errungene Sitz ein beachtlicher Erfolg und auch ein Indiz für das weiterhin bestehende Potenzial als Beispiel für die Region. Mehr als zehn Jahre nach dem arabischen Frühling sind demokratische Fortschritte in der arabischen Welt rar – am ehesten war hier noch Tunesien zu nennen. Im Libanon hingegen strahlen nun wichtige Innovationen der Protestbewegung wieder heller – etwa neue alternative Medienorganisationen“, die für einen unabhängigen Journalismus eintreten.

Viel hängt nun davon ab, ob die neuen Parlamentarier:innen mit Beispielen für Integrität und verantwortliches Handeln den Teufelskreis der Desillusionierung brechen können. Ein gradueller Wandel benötigt gleichwohl Zeit und wird die akuten Probleme des Landes nicht lösen. Das moderne Leben bricht sukzessive zusammen, Strom gibt es fast nur noch aus Generatoren zu horrenden Preisen. Perspektivlosigkeit und Angst vor unvorhersehbaren Entwicklungen sind groß – wer die Möglichkeit hat, verlässt das Land.

Auch Deutschland kann das Land unterstützen

Die Überwindung der Krise scheitert bislang vor allem an handfesten Eigeninteressen. Ein drei Milliarden US-Dollar umfassendes Hilfspaket des Internationalen Währungsfonds liegt seit Monaten auf dem Tisch, jedoch sträubt sich die libanesische Führung hartnäckig gegen grundlegende Bedingungen wie eine Auditierung der Zentralbank oder eine wirksame Reform des Bankgeheimnisses. Nachdem internationale Partner jahrelang – etwa im Rahmen der CEDRE-Konferenz – fadenscheinigen Versprechungen Glauben geschenkt haben, spekuliert man offensichtlich, dass gerade Europa vor dem Szenario eines weiteren Failed State“ in der Levante einknicken wird.

Bei zentralen Partnern Deutschlands erscheint dieses Risiko reell. Gerade Frankreich, als ehemalige Kolonialmacht Wortführer in Europa, hat immer wieder Sorge vor allzu disruptiver Veränderung erkennen lassen. Dass Präsident Emmanuel Macron sich bei seinem Beirut-Besuch 2019 prompt mit der Führungselite zum Austausch hinter verschlossenen Türen zurückzog, war hierfür sinnbildlich. Hier sollte Deutschland seine bisher vor Ort durchaus robust kommunizierten Positionen verteidigen und versuchen, Frankreich zu mehr Mut zum Wandel zu überzeugen. Dies betrifft unter anderem die gezielte Sanktionierung von Organisationen und Individuen, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterminieren.

Humanitär und demokratisch unterstützen

Solche Schritte sind nicht ohne Risiko – denkbar, dass in die Enge getriebene Akteure versuchen könnten, etwa die große Zahl syrischer Flüchtlinge weiter zu instrumentalisieren oder mittels eines Scharmützels mit Israel die Reihen zu schließen. Auf solche Szenarien müssen sich Deutschland und seine Partner vorbereiten. Unterstützungsangebote zu klaren, überprüfbaren Bedingungen gilt es derweil aufrechtzuerhalten. Über humanitäre Nothilfe hinaus sollte zudem die Unterstützung der demokratischen Zivilgesellschaft – gerade wo deren Aktivitäten wie bei investigativen Journalist:innen oder Transparenz-NGOs direkt komplementär zum internationalen Druck wirken – weiter intensiviert werden. Die bewährte Karte, solche Gruppen als ausländische Marionetten“ zu diskreditieren, wird im Zweifel so oder so gezogen.

Es bleibt wichtig, auch kleine Fortschritte als solche zu erkennen und zu neuen Chancen auszubauen. Bei allen Vorbehalten und Risiken der aktuellen Lage gibt es für den Libanon und die Region auch viel zu gewinnen.


This commentary was originally published by Frankfurter Rundschau on August 72022.