Schutzzonen und UN-Friedenseinsätze: Füllt die Ampel deutsche Staatsraison mit Leben?
Was soll Deutschlands multilateraler Beitrag sein, um Menschen vor Massengewalt und Kriegsverbrechen bis zu Völkermord zu schützen? Die angekündigte Nationale Sicherheitsstrategie der neuen Bundesregierung wird diese Frage beantworten, ob explizit oder durch Unterlassen. UN-Friedenseinsätze sind heute, trotz aller Schwächen, das wirksamste Mittel dazu. Auch in Zukunft werden UN-mandatierte oder ‑geführte Missionen, gegebenenfalls in Unterstützung von Regionalorganisationen wie der Afrikanischen Union, die Mittel der Wahl sein; die denkbaren Alternativen stehen deutlich höheren politischen Hürden gegenüber.
Im Koalitionsvertrag haben sich SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP vorgenommen, „Deutschlands Rolle bei der Entschärfung internationaler Krisen weiter aus[zu]bauen“ und dafür „Planziele [zu] definieren, um verlässlich und schnell Personal sowie finanzielle Mittel für zivile Krisenprävention bereitstellen zu können.“ Grundlage dafür sollen weiterhin die Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ bilden.1
Diese Leitlinien – ein Produkt der letzten beiden CDU/CSU-SPD-Koalitionen – setzen einen zurecht ehrgeizigen Rahmen für eine wertegeleitete Außenpolitik. Weil „Deutschland sich zu der besonderen Verantwortung bekennt, die ihm aus seiner Geschichte erwächst,“ gehören „das Verhindern von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen und das Eintreten für bedrohte Minderheiten sowie für die Opfer von Unterdrückung und Verfolgung … zur deutschen Staatsraison.“2
Das kann unter den meisten realistischen Umständen nicht mit rein zivilen Mitteln gelingen, und so nennt die bislang gültige „Konzeption der Bundeswehr“ von 2018 als Teil der Aufgaben der Streitkräfte, im multilateralen Rahmen einen „Waffenstillstand einschließlich der Einrichtung von Flugverbotszonen, Puffer- und Schutzzonen und der Entwaffnung und Rückführung der Konfliktparteien“ umsetzen zu können. „Dabei sollen sie, wenn erforderlich, Aufgaben zur Stabilisierung des Umfeldes und zum Schutz der Bevölkerung und kritischer Infrastrukturen wahrnehmen können. Zum Trennen von Konfliktparteien kann auch das Bezwingen eines militärischen Gegners erforderlich sein. Darüber hinaus sollen sie, wenn sie zur Bewältigung von Krisen und bewaffneten Auseinandersetzungen eingesetzt werden, auch zum Kampf im gesamten Intensitätsspektrum befähigt sein.“3
Dieser Anspruch ist zurecht hoch. Wirksamen Schutz akut bedrohter Bevölkerungsgruppen politisch und völkerrechtlich zu begründen, einzurichten und durchzusetzen ist keine „Intervention light“: jede Schutzzone ist ein politischer, ziviler und militärischer Kraftakt, wie die im Auftrag des Beirats der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung gemeinsam mit Andreas Heinemann-Grüder und Rainer L. Glatz verfasste Studie anhand einer Reihe von Beispielen und detaillierter Analysen ausführt.4 Wer leichtfertig Schutz verspricht, ihn aber nicht durchsetzt, macht sich ebenso mitschuldig am Leid der Opfer wie derjenige, der daneben steht und nichts tut.
Die praktischen Voraussetzungen für eine effektive, das heißt in vielen denkbaren Situationen notwendigerweise auch eine führende Rolle entweder Deutschlands oder der Europäischen Union entweder bei der Befähigung eines UN-geführten Friedenseinsatzes („Blauhelme“) zur Durchsetzung einer Schutzzone oder bei der Umsetzung eines UN-mandatierten Einsatzes auf Grundlage von EU‑, NATO- oder sonstigen Strukturen sind zwar weitgehend in politischen Richtlinien und Planungsbeschlüssen niedergelegt. Umgesetzt sind diese jedoch bisher nicht.
Das heißt, praktisch ist Deutschland bisher nicht in der Lage, die seit Jahren von unterschiedlichsten Koalitionen selbst und öffentlich gesetzten Ziele tatsächlich umzusetzen. Die zivilen und militärischen Voraussetzungen sind gleichwohl erfüllbar: anders als mancher Maximaltraum europäischer Autonomie ist der Aufbau der noch fehlenden Fähigkeiten und Ressourcen für entscheidende Beiträge zum Schutz akut bedrohter Zivilist:innen im UN-Rahmen innerhalb einer Legislaturperiode machbar.
Die historische Last von Srebrenica
Die Idee einer UN-Schutzzone5 scheint heute fast ein Widerspruch in sich, so präsent ist das Versagen der Blauhelme im bosnischen Srebrenica, als serbische Milizen zwischen dem 12. und 17. Juli 1995 über 8000 Menschen unter den Augen der Schutztruppe ermordeten. Europa, die Welt schaute zu. Wie sich herausstellte, war die vollmundige Deklaration einer Schutzzone für Zivilisten durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ihr Papier nicht wert. Die niederländischen UN-Truppen vor Ort sahen dem Morden tatenlos zu: ihnen fehlte sowohl die notwendige Stärke und Ausstattung als auch die politische Rückendeckung, um jene Menschen zu schützen, die im Vertrauen auf die UN-Flagge, das Völkerrecht und das Wort der Großmächte in der Stadt geblieben oder dorthin geflohen waren. Jahre später wiesen internationale Gerichte nach, dass die bosnisch-serbischen Täter unter dem Kommando von Ratko Mladic die Massaker systematisch geplant und durchgeführt hatten. Tatbestand: Kriegsverbrechen und Völkermord.6
UN-Schutzzonen werden von der internationalen Gemeinschaft in Konfliktgebieten gegen den Willen mindestens einer Konfliktpartei errichtet. Seit Srebrenica gelten sie als diskreditiert. Die „großen“ Alternativen allerdings auch: Das Schutzmandat für die Zivilbevölkerung in Libyen 2011 mündete in einen gewaltsamen Regimewechsel; der Staat brach zusammen. In Syrien sind die Wetten auf moderate Oppositionsgruppen an der Brutalität des Assad-Regimes und seiner Partner in Moskau und Teheran zerschellt. Und währenddessen sind es, Überraschung, UN-Friedenseinsätze in der Demokratischen Republik Kongo, im Südsudan, in Mali, die täglich mehr für den Schutz bedrohter Zivilisten tun als die mächtige NATO oder die ambitionierte EU.
Insofern ist es höchste Zeit, das schiefe Bild der Vereinten Nationen gerade zu rücken – nicht zuletzt deshalb, weil ein Mandat des UN-Sicherheitsrates für eine Schutzzone trotz aller Blockaden weniger unrealistisch ist, als dies häufig angenommen wird. Immer wieder ertönt der Ruf nicht nur der bedrohten Menschen, sondern auch der internationalen Politik nach zumindest rudimentärem Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten vor absehbaren Massenverbrechen. Zuletzt in Bezug auf Syrien, als der rhetorische Vorstoß von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer mit einer Pressemitteilung aus Moskau noch vor der beleidigten Retourkutsche des Außenministers Heiko Maas ein schnelles Ende nahm. Was für die deutsche Debatte neu war, war international Tagesgeschäft: insbesondere die Türkei fordert seit 2015 Schutzzonen in Nord-Syrien, auch die USA haben sich zeitweise sehr intensiv mit den Möglichkeiten ihrer Umsetzung beschäftigt.
Die UN sind einer der beiden praktikablen Wege der völkerrechtlichen und politischen Legitimierung einer solchen Schutzzone, sobald Moskau und Peking in irgendeinem der vielen vertrackten Gewaltkonflikte ein Eigeninteresse daran finden. Mit Blick auf Syrien sind entsprechende Szenarien gar nicht so weit hergeholt, denn russische Truppen werden kaum ewig dort stationiert bleiben können.
Irak, Somalia, Kosovo: Erfahrungen mit Schutzzonen
Die Katastrophe von Srebrenica ist bei weitem nicht das einzige historische Vorbild für eine Schutzzone. Nachdem der irakische Diktator Saddam Hussein Aufstände kurdischer und schiitischer Gruppen im Norden des Landes 1991 brutal niedergeschlagen hatte, folgten die USA und Großbritannien einem türkischen Vorschlag und errichteten eine erste Schutzzone unter Berufung auf UN-Resolutionen.7
Weitere UN-mandatierte Schutzzonen gab es in Somalia 1992, im Westen Ruandas und im Osten Kongos nach dem Völkermord von 1994, und parallel zu Srebrenica in den Städten Sarajevo, Žepa, Goražde, Tuzla und Bihać. Auch die NATO-Schutztruppe samt Übergangsverwaltung im Kosovo (KFOR/UNMIK, ab 1999) diente wesentlich dem Schutz der Zivilbevölkerung im Kosovo (Kosovo-Albaner und Serben gleichermaßen). Dies gilt mit Abstrichen auch für eine Reihe weiterer Friedenseinsätze der Vereinten Nationen und von Regionalorganisationen.
Eine Schutzzone soll – idealerweise präventiv – auf eine akute Bedrohung der Zivilbevölkerung vonseiten einer oder mehrerer Gewaltakteure reagieren. Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet alle Konfliktparteien, egal ob es sich im engeren Sinne um einen Krieg handelt, die Zivilbevölkerung sowie verwundete und kranke Kombattanten zu schützen. Immer häufiger verletzen Konfliktparteien diese völker- und menschenrechtlichen Pflichten systematisch und massenhaft, um zum Beispiel bestimmte Gruppen von Zivilisten zu vertreiben („ethnische Säuberungen“) oder zu ermorden (Völkermord), oder um die Moral und den Zusammenhalt eines politischen Gemeinwesens zu schwächen (wie bei den Kriegsverbrechen des Assad-Regimes in Oppositionsgebieten in Syrien).
Durch den Versuch, dies zu verhindern oder zu beenden, richtet sich eine Schutzzone direkt gegen dieses Verhalten der Konfliktparteien. Darin besteht der entscheidende Unterschied zu humanitären Korridoren, Pufferzonen, Deeskalationszonen und dergleichen, die gemeinhin auf dem gemeinsamen Interesse der Konfliktparteien gründen.
Drohen ganze Bevölkerungsgruppen bzw. die Zivilbevölkerung in bestimmten Gebieten direkt zum Ziel zu werden, dann erfordern wirksame Schutzzonen also – das ist der entscheidende Unterschied zwischen dem Erfolgsbeispiel Irak 1991 und der Katastrophe von Srebrenica – in erster Linie militärische Durchsetzungsfähigkeit. Weichere Mittel, wie Beobachtung oder ziviles Peacekeeping, wirken nur innerhalb der Grenzen, die die Konfliktparteien setzen. Diese Wirkung rettet trotzdem manches Leben, zum Beispiel vor unorganisierter Gewalt marodierender Milizionäre oder Soldaten – nicht jedoch vor geplanten, systematischen Massakern.
UN-Friedenseinsätze bieten Beispiele für beide Formen des Schutzes. Zu den wirksamsten „Beobachtern“ im Sinne präventiver Gewaltreduktion gehören bewaffnete, nach Kapitel VII der UN-Charta auch zum Schutz der Zivilbevölkerung (protection of civilians) mandatierte Blauhelmtruppen, deren Präsenz sich in vielen Kontexten einschränkend auf die Gewalt durch nicht-staatliche Akteure auswirkt.8 Allerdings haben Beobachter, die sich bei den Konfliktparteien keinen Respekt verschaffen können, praktisch große Schwierigkeiten, ihrem Berichtsmandat umfassend und neutral gerecht zu werden. Im Südsudan musste sich der Friedenseinsatz UNMISS zu Hochzeiten des Bürgerkriegs zum Beispiel mehrfach bieten lassen, dass Missions-Mitarbeiter von Sicherheitskräften der südsudanesischen Regierung festgenommen wurden – unter den Augen der Kolleginnen und Kollegen, trotz der Anwesenheit bewaffneter UNMISS-Peacekeeper und trotz Statusabkommen, das auch den hier betroffenen einheimischen Mitarbeitern Schutz vor derartiger Willkür garantiert hätte. Zumindest einige der entführten UN-Mitarbeiter sind nie wieder aufgetaucht.
Im Irak 1991 war das Gegenmodell zu beobachten. Bis zu 17.000 alliierte Soldaten samt schweren Geräts schufen innerhalb von zwei Monaten genügend Sicherheit, dass ein Großteil der ca. 2,5 Millionen vertriebenen Kurden zurückkehrte. Zu Kampfhandlungen kam es aufgrund des erfolgreichen Abschreckungseffekts nur in geringem Maße. Übrigens war auch die Bundeswehr an der Operation „Kurdenhilfe“ mit Sanitätskräften, Fallschirmjägern und Transall-Transportmaschinen sowie schweren Transporthubschraubern beteiligt, die in der Türkei und im Iran aktiv waren.9
Fazit: Schutz kann gelingen, aber nur mit erheblichen Investitionen
In den 25 Jahren seit dem Genozid in der gescheiterten UN-Schutzzone Srebrenica hat das westliche Bündnis im Umgang mit den Gewaltkonflikten um Europa herum fast alles praktiziert, von der zeitweiligen Errichtung eines Protektorats im Kosovo am einen Ende des Eingriffsspektrums bis zum Versuch, sich aus dem Syrienkrieg herauszuhalten, am anderen Ende. Ankündigungen ohne die Bereitschaft zur militärischen Durchsetzung sind in Srebrenica ebenso gescheitert wie die Zuschauerrolle der EU in Syrien, aber auch die Überdehnung des für einen humanitären Schutzzweck autorisierten militärischen Einsatzes hin zum Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen. Die Gegenbeispiele aus Nordirak ab 1991, Kosovo ab 1999, Südsudan ab 2014 und Ukraine ab 2015 zeigen demgegenüber, dass der moralische Imperativ und strategische Nutzen des Schutzes bedrohter Menschen vor Massengewalt nicht zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, sondern zumindest teilweise gelingen kann.
Dies gilt allerdings nur insoweit, als die eingesetzten politischen, militärischen und humanitären Mittel der Bedrohung gewachsen sind. Was das konkret bedeutet, hängt von der jeweiligen Situation, von der Größe der „Zone“ und der Zivilbevölkerung, von den Gewaltakteuren, ihren Zielen und Ressourcen ab. Das US-Planungshandbuch für „mass atrocity response operations“ setzt einen breiten Rahmen für realistische Erwartungen und spricht von einer „Landstreitkraft von Brigade- (2.000−5.000) bis Divisionsstärke (15.000−25.000 Personen) oder darüber hinaus“, dazu kämen Luft‑, Marine- und weitere Unterstützungselemente.10
Auch erfolgreiche Schutzprojekte wie im Nordirak 1991 oder im Kosovo seit 1999 brachten negative Nebeneffekte mit sich, für die die Schutzmacht unweigerlich eine erhebliche Mitverantwortung trägt. Im Fall des Nordirak hatte die Schutz- und spätere Flugverbotszone in diesem Sinne erst die Schaffung eines kurdischen Para-Staates samt endemischer Korruption und eingeschränkter Demokratie zur Folge; im Kosovo ermöglichten der Schutz durch KFOR und UNMIK ein politisches System, in dem führende Mitglieder der nationalistischen, teils terroristischen und teils verbrecherischen UČK wichtige Machtpositionen erlangen konnten.
Schutzzonen waren und sind also kein Allheilmittel. Wirksam durchgesetzte Schutzzonen können aber sehr wohl viele Menschenleben retten. Sie können darüber hinaus die katastrophalen regionalen und überregionalen Folgeeffekte von Massengräueltaten wie Massenvertreibungen und Terrorkrieg bis hin zu Völkermord so eindämmen, dass ein Übergreifen auf benachbarte Länder und Regionen verhindert oder deutlich reduziert wird, und damit auch Abwehr- und Überreaktionen von Akteuren dort vorgebeugt ist.
In einer globalen Unordnung, in der schon die ständige manipulative Einflussnahme regionaler und überregionaler Akteure eine nachhaltige friedliche Transformation von Gewaltkonflikten fast unmöglich macht, können Schutzzonen eine seltene, aber sowohl überlebenswichtige als auch strategisch bedeutende Notlösung sein. Das ist natürlich eine multilaterale Aufgabe, für deren Scheitern oder Gelingen Deutschland inzwischen keine unwesentliche Rolle mehr spielt. Die dazu notwendigen zivilen wie militärischen Beiträge wird Deutschland in Zukunft nur leisten können, wenn die bestehenden Planungen zur Stärkung der notwendigen Kapazitäten mit großer Dringlichkeit umgesetzt, in einigen Bereichen ergänzt und keinesfalls verzögert oder reduziert werden.
Was also tun?
Im Laufe des Jahres 2022 wird die Bundesregierung entscheiden, welche Rolle der präventive und reaktive Umgang mit Krisen für ihre Außen‑, Sicherheits- und Friedenspolitik spielt. Sie wird entscheiden, welchen Beitrag sie bereit sein möchte zu leisten, wenn sich – das wird selten genug vorkommen – politische Gelegenheiten ergeben, auf drohenden Völkermord oder andere Massenverbrechen einzuwirken, die – im Unterschied zu völkerrechtskonformer Kriegführung – nicht nur viel höheres akutes Leid verursachen, sondern deren Folgen auch Jahrzehnte länger die Zukunft der Länder vergiften.
Sie kann sich dafür entscheiden, die Fähigkeit zu führenden deutschen Beiträgen zur Errichtung einer Schutzzone, oder zum Schutz von Zivilisten mit politischen, polizeilichen und militärischen Mitteln, zu schaffen. Die meisten Voraussetzungen liegen vor, auf dem Papier sogar alle. Was fehlt, kann innerhalb der Legislaturperiode ergänzt werden.
Der Weg dorthin führt über eine klar etablierte Zielsetzung im Rahmen der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie. Hier können die bestehenden Selbstverpflichtungen von historischer Verantwortung und Staatsraison in einem greifbaren Anspruch konkretisiert werden, der Richtschnur für praktische Prioritäten in den relevanten Haushalten und Strukturen der betroffenen Ministerien und Organisationen, von Auswärtigem Amt und Bundesnachrichtendienst bis zu Innenbehörden, Entwicklungszusammenarbeit und Bundeswehr wird.
Auf der Grundlage einer Artikulation des politischen Willens gälte es zwei parallele Wege zu beschreiten. Der erste schließt die Fähigkeitslücken, die wir anderen Ortes im Detail analysiert haben.11 Er beginnt mit einer Bestandsaufnahme und Defizitanalyse der nötigen Kapazitäten und Fähigkeiten zur Frühwarnung vor Massenverbrechen sowie zur Konzeption, Planung, Führung und Bereitstellung deutscher Beiträge bei der Realisierung multilateraler Schutzzonen. Diese kann parallel zum Strategieprozess erfolgen. Ihre Erkenntnisse schaffen die Grundlage für den zielgerichteten Aufbau der realen Fähigkeitslücken in Bereichen Krisenfrüherkennung, Konfliktanalyse und zivilen wie militärischen Handlungsinstrumenten.
Der zweite parallele Weg schließt konzeptionelle und Planungslücken, und schafft Vertrautheit mit den Entscheidungsproblemen, die sich im Ernstfall stellen. Die nötigen Fortschritte beim Durchdenken, Planen und Streiten über strategische Handlungsoptionen beim Krisenengagement insgesamt und bei der Einrichtung von Schutzzonen im Speziellen müssen vorbereitet und eingeübt werden, denn wenn es ernst wird, besteht extremer Zeitdruck. Ein gezielter Ausbau zivil-militärischer Übungen und Planspiele unter ziviler Führung und breiter Beteiligung relevanter Akteure ist der beste Weg – auch hier können wir von Partnern lernen, zum Beispiel von Norwegen12 oder den USA – um die deutschen Planungs‑, Entscheidungs- und Umsetzungsstrukturen mit den praktischen Herausforderungen einer Schutzzone oder eines Friedenseinsatzes mit Schutzauftrag im notwendigen Maße vertraut zu machen.
Diese überschaubaren Fähigkeitslücken zu schließen und für den Ernstfall zu planen und zu üben würde Regierung, Ministerien oder die weiteren geforderten Institutionen weder politisch noch finanziell oder praktisch vor große Herausforderungen stellen. Wenn es gelingt, sich hier ein klares, ebenso humanitäres wie realistisches Ziel zu setzen und dieses zu erreichen, dann würde die Ampel zum 30. Jahrestag des Völkermords in Ruanda 2024 die erste deutsche Bundesregierung, die ihrer sogenannte Staatsräson im Hinblick auf die Verhinderung von Massengewalt und Genozid in einer Weise gerecht würde, die der Größe und Wirtschaftskraft Deutschlands angemessen wäre.13
This article was originally published in the January 2022 edition of Vereinte Nationen, a magazine by the German Association for the United Nations (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, DGVN) on March 3, 2022.
References
1 „Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit,“, Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), S. 148
2 Deutsche Bundesregierung, „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern: Leitlinien der Bundesregierung,“, Kabinettsbeschluss vom 14. Juni 2017, https://tinyurl.com/3yu4temw, S. 47.
3 Bundesministerium der Verteidigung (2018), Konzeption der Bundeswehr, Berlin, S. 25.
4 Der vorliegende Text basiert in erheblichen Teilen auf der vom Autor im Auftrag des Beirats der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung gemeinsam mit Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder und Generalleutnant a.D. Rainer L. Glatz verfassten Studie „Schutzzonen: Möglichkeiten, Grenzen, Dilemmata“, Februar 2021, https://tinyurl.com/4z9snmje
5 Die Begriffe Schutzzone und insbesondere Schutztruppe wecken Erinnerungen an die Euphemismen des deutschen Kolonialismus („Schutzgebiete“) und insbesondere an den Genozid der sogenannten kaiserlichen „Schutztruppe“ an den Herero und Nama 1904. Beide Bezeichnungen sind allerdings seit mindestens einem Vierteljahrhundert im Wortsinn des Schutzes bedrohter Bevölkerungsgruppen gebräuchlich, sowohl für die im Text genannten Beispiele von alliierten und UN-Schutzzonen als auch im Fall der „Schutztruppe“ als medial verbreitete Kurzbezeichnung der NATO-Einsätze im Kosovo (KFOR) und in Afghanistan (ISAF, 2002 – 2014). In diesem Sinne werden sie hier verwendet.
6 International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (2004): The Prosecutor v. Radislav Krstić, Judgement in the Appeals Chamber, 19. April, http://www.icty.org/x/cases/krstic/acjug/en/krs-aj040419e.pdf.
7 Die Qualität dieser Rechtsgrundlage ist sehr umstritten, siehe Heinemann-Grüder, Glatz, Rotmann, a.a.O.
8 Hanne Fjelde; Lisa Hultman; Desirée Nilsson (2019): Protection Through Presence: UN Peacekeeping and the Costs of Targeting Civilians, in: International Organization, 73(1), S. 103 – 131.
9 Siehe dazu u.a.: taz (1991) Deutsche Luftbrücke nach Kurdistan gestartet, Ausgabe vom 16.4.1991, S. 7, https://taz.de/Deutsche-Luftbruecke-nach-Kurdistan-gestartet/!1723613/.
10 Sarah Sewall, Dwight Raymond, Sally Chin (2010): Mass Atrocity Response Operations: A Military Planning Handbook, U.S. Army Peacekeeping and Stability Operations Institute & Carr Center for Human Rights Policy, Harvard Kennedy School, S. 57.
11 Heinemann-Grüder, Glatz, Rotmann
12 Siehe u.a. Stian Kjeksrud, Alexander Beadle, Petter H.F. Lindqvist (2016): Protecting Civilians from Violence, Oslo; Alexander William Beadle (2014): Protection of Civilians – Military Planning Scenarios and Implications, FFI 2014; Alexander William Beadle; Stian Kjeksrud (2014): Military planning and assessment guide for the protection of civilians, FFI 2014.
13 Zur Rolle der deutschen Außenpolitik vor und während des Völkermords in Ruanda haben meine Kolleg:innen Sarah Brockmeier und Anton Peez jüngst neue Erkenntnisse auf Grundlage freigegebener Akten des Auswärtigen Amtes vorgelegt. Sarah Brockmeier, Anton Peez: „Akteneinsichten“, Heinrich-Böll-Stiftung.