Commentary

Können Schutzzonen Leben retten?

Rotmann 2020 Schutzzone
Source: Mikel Oibar /​Flickr
13 Jul 2020, 
published in
Frankfurter Allgemeine Zeitung - Einspruch

Vor 25 Jahren, zwischen dem 12. und 17. Juli 1995, ermordeten serbische Milizen bei Srebrenica in Bosnien-Herzegowina über 8000 Menschen. Europa, die Welt schaute zu. Die Vereinten Nationen hatten die Stadt zur Schutzzone” für Zivilisten erklärt. Doch die niederländischen Blauhelme vor Ort sahen dem Morden tatenlos zu: ihnen fehlte sowohl die notwendige Stärke und Ausstattung als auch die politische Rückendeckung, um jene Menschen zu schützen, die im Vertrauen auf die UN-Flagge, das Völkerrecht und das Wort der Großmächte in der Stadt geblieben oder dorthin geflohen waren. Jahre später wiesen internationale Gerichte nach, dass die bosnisch-serbischen Täter unter dem Kommando von Ratko Mladic die Massaker systematisch geplant und durchgeführt hatten. Tatbestand: Kriegsverbrechen und Völkermord.

UN-Schutzzonen werden von der internationalen Gemeinschaft in Konfliktgebieten gegen den Willen mindestens einer Konfliktpartei errichtet. Seit Srebrenica gelten sie als diskreditiert. Doch ein Vierteljahrhundert später stehen die Alternativen nicht besser da: Das Schutzmandat für die Zivilbevölkerung in Libyen (2011) mündete in einen gewaltsamen Regimewechsel und in den Kollaps der Staatlichkeit. In Syrien sind die westlichen Wetten auf moderate Oppositionsgruppen an der Brutalität des Assad-Regimes und seiner Partner in Moskau und Teheran geplatzt.

Ein Comeback der Schutzzone?

Nachdem die Alternativen gescheitert sind, scheint die Idee der Schutzzone ein Comeback zu erleben. Als die Türkei im letzten Herbst in die nordsyrischen Kurdengebiete einmarschierte, schlug Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer eine international kontrollierte Sicherheitszone“ vor. Die Bundeskanzlerin fand die Idee allemal wert, dass man versucht, sie umzusetzen.“ Die Fachleute im Verteidigungsministerium hatten nach einem SPIEGEL-Bericht militärische Einsatzoptionen für eine mögliche Beteiligung der Bundeswehr entwickelt, die nun wohl in der Schublade liegen. Im März 2020 sprach Außenminister Heiko Maas von einem Raum mit Sicherheitsgarantien“, und meinte Moskau als Garantiemacht. Gleichzeitig forderten Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik von Russland und der Türkei, eine Schutzzone für Binnenvertriebene zu schaffen und zu sichern“.

Was können Schutzzonen leisten, und unter welchen Umständen? Sind sie völkerrechtlich erlaubt? Anders als damals in Srebrenica definiert heute weder ein UN-Mandat noch eine Koalition der Willigen“ eine Schutz‑, Sicherheits‑, Flugverbots- oder Deeskalationszone. Die Konzepte purzeln munter durcheinander. Hier Klarheit zu schaffen ist Grundvoraussetzung für eine informierte politische Abwägung, wenn die Idee das nächste Mal auf den Tisch kommt.

Das Völkerrecht steht vor einem Dilemma

Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet Konfliktparteien unter allen Umständen, Zivilisten, Verwundete und Kranke zu schützen. Die Idee der Schutzzone kommt ins Spiel, wenn – wie in Srebrenica, in Syrien oder im Südsudan – eine oder mehrere Konfliktparteien ihre völker- und menschenrechtlichen Pflichten systematisch verletzen. Beobachtermissionen wie in der Ostukraine sind stets durch Einladung der Regierung legitimiert. Unter welchen Umständen das Völkerrecht robustere Formen von Schutzzonen zulässt und welche davon praktisch umsetzbar sind, ist umstritten. Das Recht steht vor einem Dilemma: Durch den Missbrauch humanitärer Gründe für Angriffskriege ist die Schutzverantwortung kaum mehr zustimmungsfähig im UN-Sicherheitsrat. Und doch sind Massenmord und Vertreibung weder mit Souveränität noch mit Völkerrecht vereinbar.

Schutz- oder Sicherheitszonen, Flugverbots- oder Pufferzonen können extremes Leid wenigstens teilweise lindern und Massenvertreibung eindämmen. Für begrenzte Räume können sie einen partiellen Schutz bieten, vor bestimmten Waffen oder für bestimmte bedrohte Gruppen, wenn die nötigen Voraussetzungen gegeben sind. Im Nordirak 1991 schützten US-geführte Truppen samt Flugverbotszone die kurdische Bevölkerung vor dem Regime Saddam Husseins. 2014 standen UN-Blauhelme im Südsudan vor der Wahl, die eigenen Stützpunkte für Vertriebene zu öffnen oder bei Mord und Vertreibung Zehntausender zuzusehen. Anders als in Srebrenica 19 Jahre zuvor, öffneten sie die Tore und schufen notdürftige Mini-Schutzzonen, die bis heute bestehen. Selbst rein zivile Mittel können eine Wirkung erzielen: In der Ukraine schreckt die 2015 etablierte OSZE-Beobachtermission Gewaltakteure vom Einsatz schwerer Waffen ab.

Unterschiedliche Schutzkonzepte für unterschiedliche Bedrohungen

Unterschiedliche Formen der Massengewalt erfordern unterschiedliche Arten des Schutzes. Gegen radikalisierte Völkermörder mit Macheten, wie in Ruanda 1994, oder die bosnisch-serbischen Milizen um Srebrenica 1995, hätte keine Flugverbotszone geholfen. Anders im Nordirak 1991, als das Regime Saddam Husseins die kurdische Minderheit mit Kampfflugzeugen bombardieren ließ, was Befürchtungen vor einer Wiederholung der Giftgasangriffe von 1988 nährte. Hier trug die US-geführte Flugverbotszone zum Schutz der Kurden bei – anfangs verbunden mit einer Bodenoperation. Pufferzonen wiederum beruhen auf der Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien. Darauf lassen die sich jedoch nur ein, wenn ihre Kriegsstrategie nicht gerade darauf beruht, die ansässigen Zivilisten zu terrorisieren (wie in Syrien seit 2014), zu vertreiben oder zu ermorden (wie in Ruanda 1994 und in Bosnien 1992 – 95).

Ein Vierteljahrhundert nach dem Völkermord von Srebrenica sollte uns das damalige Scheitern der Schutzzone daran erinnern, dass sich Massenmörder selten von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates abschrecken lassen. Die Regierungen der damaligen Ratsmitglieder hatten leichtfertig ein Schutzversprechen gegeben, ohne sich ernsthaft mit den Erfordernissen seiner Implementierung und Durchsetzung zu befassen. Der 25. Jahrestag dieses Massakers muss uns auch daran erinnern, wie Bosnien-Herzegowina jahrelang vergeblich auf Europas Hilfe hoffte, bis schließlich die Vereinigten Staaten ihre europäischen Verbündeten zum Eingreifen führten. Das Ergebnis der Friedensverhandlungen von Dayton ist kein effektiver Staat, und doch wurde der Krieg beendet. Dagegen ist Syrien inzwischen im neunten Kriegsjahr, Assad sitzt mit russischer und iranischer Hilfe weiter fest im Sattel. Nach UN-Schätzungen waren 8,7 Millionen Menschen zeitweilig innerhalb Syriens auf der Flucht, vier Millionen flohen ins Ausland.

Zu oft hat Deutschland zugeschaut

Erfolgreich im Nordirak 1991, gescheitert in Bosnien 1995, erfolgreich im Südsudan seit 2014 und in der Ukraine seit 2015, bislang gescheitert in Syrien: Schutzzonen können, anders als die Erinnerung an Srebrenica 1995 nahelegt, Leben retten – aber nur dann, wenn die Mittel und der politische Wille der Garantiemächte den Herausforderungen gewachsen sind. Schutzzonen sind eine Notlösung für den Fall, dass ein Schutz im Ausland oder in anderen sicheren Gebieten nicht möglich ist. Sie liefern keine Konfliktlösung frei Haus, doch sie können Menschen dichter an ihrer Heimat schützen, Zeitfenster für Verhandlungen öffnen und den Blutzoll reduzieren, der den Weg zum Frieden so oft versperrt.

Zu oft haben wir als Deutsche in den 25 Jahren seit Srebrenica zugeschaut, weil Zuschauen einfacher ist als Handeln. In Zukunft werden wir häufiger mit unseren europäischen Partnern die moralischen, politischen und militärischen Dilemmata abwägen müssen, die mit beherzten Eingriffen in Gewaltkonflikte einhergehen. Bevor wir vollmundige Schutzversprechen abgeben, müssen wir Klarheit schaffen über die Kosten und die Risiken ihrer Einlösung. Und wo wir Versprechen geben, müssen wir sie halten. Wer Schutzzonen errichtet, muss die Menschen darin gegen Angriffe von außerhalb und gegen Gewaltakte innerhalb der Zone schützen, humanitäre Hilfe und medizinische Versorgung gewährleisten, Notleidende aufnehmen und Rückkehr ermöglichen.


This commentary was originally published in Frankfurter Allgemeine Zeitung — Einspruch on July 132020