Einstehen für die liberale Ordnung?
Für ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer sahen sich Deutschland und Europa als Hort der liberalen Demokratie, die auch global auf dem Siegeszug war. Autoritäre Regierungsmodelle würden sich bald auf dem Müllhaufen der Geschichte wiederfinden. Dabei sollte westliche Demokratieförderung (sei es durch politische Stiftungen oder die Arbeit von NGOs) tatkräftig nachhelfen. In seiner Nachbarschaft (von der Türkei bis Russland) würde die normative Anziehungskraft der EU zu einer weiteren Liberalisierung führen. Man vertraute darauf, dass durch internationale Verrechtlichung die Stärke des Rechts Vorrang vor dem Recht des Stärkeren haben würde. Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution von 1989, sieht die Realität anders aus. Wie Bundespräsident Gauck Anfang des Jahres in seiner Abschiedsrede befand: „Die liberale Demokratie und das politische und normative Projekt des Westens, sie stehen unter Beschuss.“ Innerhalb der EU erhalten illiberale autoritäre Bewegungen immer stärkeren Auftrieb, die mit großer Leidenschaft eine kulturelle Gegenrevolution gegen eine offene Gesellschaft betreiben und sich auch vermehrt einer nationalistischen wirtschaftlichen Agenda verschreiben. Mit Ungarn (unter Premier Orbán) sowie Kaczyńskis Polen sind zwei EU- Mitgliedstaaten fest in der Hand eines neuen autoritären Nationalismus. Statt des „Ringes stabiler, befreundeter Staaten“, welche die europäische Nachbarschaftspolitik versprochen hatte, ist Europa von einem Krisengürtel umgeben. Die USA, Garantiemacht europäischer Sicherheit, haben einen Politiker zum Präsidenten gewählt, der sich dem Illiberalismus verschrieben hat. Russland, China und die Türkei werden autoritär regiert und gehen gegen NGOs vor, die sich für Demokratieförderung und Menschenrechte einsetzen. Moskau setzt in der Ukraine gewaltsam Ansprüche auf eine russische Einflusssphäre durch, eine Demonstration des Rechts des Stärkeren gegenüber der Stärke des Rechts. Chinas autoritärer Staatskapitalismus nutzt zudem geschickt die asymmetrische Offenheit Europas für strategische Investitionen aus. In einer Schubumkehr versuchen autoritäre Staaten nun ihrerseits, politisch und wirtschaftlich auf Deutschland und Europa Einfluss zu nehmen, durch Propaganda und gezielte und massenhafte Desinformation vor allem über die digitalen sozialen Medien, durch Einflussnahme über Lobbyisten, Thinktanks und andere Dienstleister sowie die direkte finanzielle und anderweitige Unterstützung illiberal-autoritärer Kräfte (wie etwa Russland beim französischen Front National).
Liberale Demokratien und offene Gesellschaften stehen vor der größten Belastungsprobe seit den 1930er-Jahren. Damit wird die Selbstbehauptung liberaler Demokratie zur zentralen Herausforderung deutscher und europäischer Politik. Deutschland und Europa sind gefordert, Maßnahmen zur Immunisierung liberaler Demokratie gegen autoritäre Tendenzen zu ergreifen. Hierbei bedingen sich Innen‑, Europa- und Außenpolitik in bislang kaum gekannter Weise wechselseitig. Bemühungen der Politik allein werden nicht ausreichen. Bürger und Zivilgesellschaft sind gefordert. Wie US-Präsident Barack Obama in seiner Abschiedsrede betonte, ist „Bürger“ das wichtigste zu vergebende Amt in der liberalen Demokratie. Zivilgesellschaftliche Organisationen können zudem einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung liberaler Ordnungen leisten.
Gleichzeitig müssen sich auch deutsche Unternehmen fragen lassen, wie sie in diesem Zusammenhang ihre eigene Rolle sehen und welchen Beitrag sie zur Stärkung beziehungsweise Verteidigung der liberalen Demokratie in Deutschland und Europa zu leisten bereit sind. Die im letzten Jahrzehnt in Mode gekommenen Debatten um Corporate Citizenship und Corporate Social Responsibility helfen dabei nur bedingt weiter, da darin diese Fragen nicht deutlich gestellt wurden.
Dabei wird man nicht davon ausgehen können, dass Unternehmen bereits aus einer Geschäftslogik heraus offen gegen illiberal-autoritäre Strömungen Stellung beziehen. Und in den seltensten Fällen ziehen sie sich aus autoritär geführten Ländern wieder zurück oder reduzieren ihre Investitionen, solange illiberal-autoritäre Politik nicht mit fundamentaler Instabilität einhergeht. Auch das Beispiel USA und Donald Trump hat jüngst wieder gezeigt: Wenn ein illiberal-autoritärer Politiker an den Schalthebeln der Macht angekommen ist, agieren viele Unternehmen und Unternehmensführer erst einmal neutral und vorsichtig. Schließlich hat der US-Präsident reale Macht über Unternehmen. Wenn ein Unternehmen ins Fadenkreuz seiner Tweets gerät, kann sich das je nach Branche auf den Aktienkurs auswirken. Andererseits hat das Beispiel USA auch gezeigt, dass Unternehmen dann auch wagen, sich offen gegen einen illiberal-autoritären Politiker wie Trump zu positionieren, wenn es Unternehmensführer aus Überzeugung tun oder wenn es Druck oder wenigstens Solidarität von außen oder innen gibt (etwa vonseiten der Kunden oder Mitarbeiter).
Auch in Deutschland kann eine Positionierung aus Überzeugung Zeichen gegen illiberal-autoritäre Entwicklungen setzen. VW-Chef Michael Müller etwa fordert: „Es ist an der Zeit, dass Wirtschaftslenker zu bestimmten Dingen ihre Meinung sagen. Wir müssen uns Extremismus entgegenstellen und Haltung zeigen“. Er kritisiert insbesondere die AfD, die massiv Vorurteile schüre. „Die AfD spiegelt nicht das Deutschland wider, dessen Bürger ich sein möchte“. Wie schwer dies fällt, wenn autoritäre Kräfte erst einmal an der Macht sind, zeigt das Beispiel Ungarn. Hier will Premier Orbán mitten in der EU einen „illiberalen Staat auf nationaler Grundlage“ aufbauen, wie er vor drei Jahren in einer Rede ankündigte. Dazu höhlt er systematisch die Rechtsstaatlichkeit aus, drangsaliert unabhängige Nichtregierungsorganisationen und Medien sowie hetzt gegen Migranten und den Islam.
Auch wirtschaftlich zog Orbán die steuerlichen und regulatorischen Schrauben bei internationalen Konzernen im Bereich Medien, Banken, Energie, Telekom und Einzelhandel an, deren Marktanteil er zugunsten von heimischen Unternehmen verringern will. Gleichzeitig umwirbt Orbán erfolgreich ausländische Industriekonzerne. 75 Prozent der ungarischen Industrieinvestitionen kommen aus dem Ausland. Dabei sind deutsche Firmen prominent vertreten. Audi und Daimler etwa haben in Ungarn große Werke, andere deutsche Unternehmen auch Logistik- und Forschungszentren. Daimler etwa baut gerade ein weiteres Werk für eine Milliarde Euro. Insgesamt haben deutsche Firmen in Ungarn 174.000 Beschäftigte und machen rund 200 Milliarden Umsatz. Kein Wunder, dass Orbán sich genauso wie die gegenwärtige polnische Regierung gern mit dem Engagement ausländischer Unternehmen als Beweis des Erfolgs seiner Wirtschaftspolitik schmückt.
Nur stellt sich die Frage, ob Unternehmensführer das Spiel bei öffentlichen Terminen mit Orbán wirklich mitspielen müssen? Was zwang etwa Audi-Chef Stadler, vor zwei Jahren bei einem Termin mit dem Premier öffentlich zu betonen: „Wir fühlen uns als Audi zu Hause in Ungarn“. Warum zeigte sich Eckart von Klaeden, Daimlers Leiter Politik und Außenbeziehungen, bei einer Daimler-Veranstaltung in Budapest noch im Mai dieses Jahres so demonstrativ freundschaftlich mit Orbán? Könnten deutsche Unternehmen nicht gerade in EU-Staaten wie Ungarn und Polen klarer Position beziehen gegen die Missachtung demokratischer Gewaltenteilung, das Vorgehen der Regierungen gegen die unabhängige Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft? Könnten sie nicht auch als Teil ihrer CSR-Aktivitäten ganz bewusst unabhängige Medien, Bildungseinrichtungen und NGOs unterstützen, etwa auch durch einen gemeinschaftlichen Fonds, um ein Zeichen zu setzen gegen die Putinisierung inmitten der EU?
Auch im eigenen Interesse sollten deutsche Unternehmen ein höheres Bewusstsein für Versuche autoritärer Staaten wie Russland und China enwickeln, auf liberale Demokratien verdeckt und mit unlauteren Mitteln Einfluss zu nehmen. Ein Geflecht von Regierungsakteuren, Geheimdiensten, Staatsunternehmen und Staatsfonds sowie wohlhabenden Privatpersonen nutzt die asymmetrische Offenheit unseres Politik‑, Wirtschafts- und Gesellschaftssystems aus. Dabei helfen Banken, Bilanzprüfer, Lobbyisten, PR-Berater und Anwälte als Dienstleister, um Zugänge zu vermitteln und Reputationen zu erhöhen. Bislang werden diese Aktivitäten vonseiten der Öffentlichkeit, aber auch vonseiten der Unternehmen nicht kritisch genug bewertet. Dies sollte sich auch deshalb ändern, weil, wie wir inzwischen wissen, eine engere wirtschaftliche Verflechtung mit Staaten wie Russland und China entgegen unseren Hoffnungen aus den letzten Jahrzehnten nicht oder nur sehr wenig zu einer Liberalisierung in diesen Staaten beigetragen hat.
Dass das Versprechen „Wandel durch Handel“ sich nur allzu oft nicht erfüllt hat, zwingt Unternehmen gegenüber der Öffentlichkeit und ihren Stakeholdern umso mehr dazu, heute ein höheres Problembewusstsein bei der Gestaltung ihrer Geschäftsbeziehungen mit autoritär regierten Staaten zu entwickeln. Das heißt nicht, dort keine Geschäfte mehr zu machen. Aber es sollte bedeuten, sich nicht als Feigenblätter für Autoritarismus herzugeben, wie es Unternehmensführer von Nestlé, Novartis, Axa und Vodafone jüngst in der PR-Kampagne „My Turkey Story“ für Erdogans Türkei taten.
Vor genau 20 Jahren befürchtete Ralf Dahrendorf: „Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert“. Zu verhindern, dass Dahrendorfs Sorge zumindest in Europa Realität wird, sollte auch das ausdrückliche Ziel deutscher und europäischer Unternehmen und ihrer Führungskräfte sein.
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The commentary, also available for download, was originally published in the Summer 2017 issue of Palais Biron magazine (Baden-Badener Unternehmer Gespräche).