Neue Strategie der Außenpolitik: Deutschland will die Welt außerhalb des Westens entdecken
Ende letzten Jahres befand der Militärhistoriker Sönke Neitzel: „Ich würde wetten, dass in dieser nationalen Sicherheitsstrategie nicht eine einzige Erkenntnis enthalten ist, die uns als teilnehmende Beobachter überrascht.“
In der Tat werden wenige Leser Revolutionäres in dem an diesem Mittwoch vorgestellten Dokument entdecken.
Wie auch? Der Text hat monatelange Abstimmungsschleifen zwischen Ministerien und Kanzleramt hinter sich. Für ambitionierte institutionelle Neuerungen wie einen Nationalen Sicherheitsrat fand sich kein Konsens.
Der Finanzminister sorgte dafür, dass jegliche aus der Strategie resultierenden Mehrausgaben (etwa zur Erreichung des Nato-Prozent-Ziels) unter Vorbehalt von Haushaltslage und Schuldenbremse und damit auf höchst weichen Beinen stehen.
Zudem sind die grundlegenden Neuerungen der Zeitenwende längst bekannt: dass Deutschland mit stärkeren eigenen Fähigkeiten Sicherheit in Europa gegen Russland organisieren helfen; dass es wirtschaftliche Sicherheit ernst nehmen und damit Abhängigkeiten auch gegenüber China verringern muss.
Für eine Amerika-Strategie im Sinne eines schonungslosen Durchdenkens europäischer Sicherheit im Falle einer Rückkehr des Trumpismus ist ein solches öffentliches Konsensdokument ohnehin nicht das passende Format.
Es gibt jedoch einen Akzent des Dokuments, der besondere Neugier und öffentliches Weiterdenken verdient. Die Sicherheitsstrategie stellt erstmalig die Diagnose einer multipolaren Welt ins Zentrum. Noch im „Weißbuch Multilateralismus“ der Vorgängerregierung aus dem Jahr 2021 kommt der Begriff, der heute zentral ist für den Kanzler und die Außenministerin, nicht vor.
Annalena Baerbock sagt ganz klar: „Wir leben nicht in einer zweigeteilten Welt, sondern in einer multipolaren Welt.“ Für Olaf Scholz ist Multipolarität ein bislang zu wenig beachteter Dreh- und Angelpunkt seiner außenpolitischen Weltsicht.
Anders als für China und Russland heute versteht Scholz „multipolar“ nicht als politisches Projekt gegen die dominante Rolle der USA, sondern als empirische Bestandsaufnahme.
Viele einflussreiche Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika wollten ihre eigene Geschichte schreiben und sich nicht in ein amerikanisches oder chinesisches Lager einsortieren lassen. Damit kann man keinen neuen Kalten Krieg wegwünschen, auf den wir uns rapide zubewegen, allerdings unter anderen multipolaren Vorzeichen.
Um erfolgreiche Außen- und Sicherheitspolitik in einer multipolaren Welt zu machen, muss Deutschland die Beziehungen zu den Gestaltungsmächten außerhalb des Westens massiv ausbauen. Nur so kann Deutschland wirtschaftliche Diversifizierung voranbringen und vor allem möglichst viele Staaten davon überzeugen, eine multipolare Welt auch multilateral zu gestalten.
Das wird ein schwieriges Unterfangen. Viele der Staaten sind aus unterschiedlichen Gründen skeptisch gegenüber dem Westen und der Ungleichheit und Ungerechtigkeit der bestehenden internationalen Ordnung. Viele Regierungschefs, so berichtet es Außenministerin Baerbock, hätten ihr nach Start des russischen Kriegs gesagt: „Wo wart Ihr, als wir euch brauchten?“
Der Fokus der Sicherheitsstrategie auf den Ausbau von Beziehungen mit nicht-westlichen Staaten ist deshalb richtig. Erfrischend ist, dass die Sicherheitsstrategie den allzu bequemen Begriff des „globalen Südens“ vermeidet. Zu unterschiedlich sind diese Staaten.
Gut ist auch, dass die Strategie den Begriff der „regelbasierten Ordnung“ so neu fasst, dass klar wird, dass es nicht um die Verteidigung westlicher Privilegien, sondern von Kernprinzipien der UN-Charta geht. Viele Staaten, so formulierte es der Kanzler neulich, erwarten ein „Ende der westlichen Doppelmoral“ und faire Repräsentation in internationalen Gremien.
Hier müssen Deutschland und Europa in Zukunft eigene Privilegien abgeben, etwa den europäischen Anspruch auf den Chefsessel des Internationalen Währungsfonds. Überfällig ist auch der Abschied von dem aus der Zeit gefallenen Anspruch eines deutschen Sitzes im UN-Sicherheitsrat.
Die überraschte Empörung, mit der viele hierzulande darauf reagierten, dass sich Indien, Brasilien, Südafrika und andere nicht einfach die transatlantische Position mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine übernahmen, macht deutlich: Es bleibt viel Aufbauarbeit zu leisten beim tieferen Verständnis durch tiefere Beziehungen, auch auf Seiten von Wissenschaft und Think Tanks.
Hier sind nicht nur der Staat, sondern auch private Akteure wie Stiftungen gefordert. Die erste deutsche Sicherheitsstrategie sollte Ansporn für ein im besten Sinne strategischeres Verständnis einer multipolaren Welt sein.
This commentary was originally published in Tagesspiegel on June 13, 2023.