Widerhall trotz Widerlegung: Wieso Seenotrettung kein Pull-Faktor ist
Helfen durch unterlassene Hilfeleistung – gemäß dieser Logik und trotz der aktuell hohen Zahl von Unglücken im Mittelmeer beteuern Gegner*innen der Seenotrettung gebetsmühlenartig, dass ihre Kritik an Seenotrettungsorganisationen wie Sea Watch und Mission Lifeline eigentlich gut gemeint sei. Die dahinterliegende Idee ist simpel: Seenotrettung diene als Anreiz für Migration, sie sei ein sogenannter Pull-Faktor, und verlocke mehr Menschen dazu, die gefährliche Überfahrt nach Europa anzutreten, als durch Seenotrettung gerettet werden können. Entsprechend logisch erscheint die Forderung, Seenotrettung zu beenden. Doch in der Einfachheit der Pull-Faktor-Theorie liegt auch ihr Fehler. Sie ist zu unterkomplex, um vielschichtige Migrationsgeschehen, geschweige denn migrantische Entscheidungsfindung zu erklären. Die Migrationsforschung hat dies spätestens in den 90-er Jahren erkannt. Der öffentliche Diskurs offensichtlich nicht. Den mindestens 955 Toten seit Beginn dieses Jahres schulden wir eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Problemlage.
Zahlen lügen nicht, sagen allerdings auch nicht immer die Wahrheit
Erst kürzlich forderte der Journalist Joachim Wagner in einem Kommentar in der ZEIT„mehr Ehrlichkeit“ in der Diskussion über Pull-Faktoren. Ehrlichkeit über die vermeintliche Sogwirkung der Seenotrettung und darüber, dass Forschungsergebnisse zu dieser Thematik nicht zuverlässig sein. Auch wenn die Pull-Faktor-Theorie in der Migrationsforschung schon seit einigen Jahrzehnten als veraltet und überholt gilt, ist Kritik an bisherigen Studien zum Einfluss von Seenotrettung aus methodischer Sicht durchaus berechtigt. So vergleichen die meisten Forschungsprojekte die Zahl über das Mittelmeer reisender Migrant*innen in Perioden mit einem niedrigen Level an Seenotrettungsaktivitäten mit Migrationszahlen aus Perioden, in denen viele Rettungsboote vor Ort sind. Einen fehlenden statistischen Zusammenhang zwischen beiden Größen deuten Forscher*innen als Indiz dafür, dass Seenotrettung keinen Einfluss auf die Zahl abfahrender Migrant*innen hat. Tatsächlich liefert diese Methode allerdings nur erste Anhaltspunkte statt abschließender Ergebnisse, da sie viele weitere potenzielle Einflussfaktoren außenvorlässt. Zwar können einzelne Faktoren wie das Wetter durch feinere statistische Analysen mitberücksichtigt werden, eine isolierte Untersuchung des Effektes von Seenotrettung ist allerdings auch hier nur schwer möglich. Diese Probleme bedeuten allerdings nicht automatisch, dass die Schlussfolgerungen der Studien falsch sind. Sie verweisen vielmehr auf ein grundsätzliches Problem statistischer Migrationsforschung: Wer Migrant*innen nur in ihrer numerischen Summe betrachtet, übersieht die Vielfältigkeit und Komplexität ihrer Biografien und Entscheidungsfindungsprozesse. So tappt statistische Forschung zu vermeintlichen Pull-Faktoren in dieselbe vereinfachende Falle wie jene Theorien, die sie zu widerlegen versucht.
Migrant*in, ist nicht Migrant*in, ist nicht Migrant*in
Um den Entschluss zur Überfahrt über das Mittelmeer besser zu verstehen, bedarf es deshalb einer differenzierteren Betrachtung. Im Rahmen meiner eigenen interview-basierten Untersuchung von Migration entlang der zentralen Mittelmeerroute konnte ich herausfinden, dass es zwischen mindestens drei Gruppen von Migrant*innen zu unterscheiden gilt:
Die erste Gruppe besteht aus Migrant*innen, welche gute navigatorische Fähigkeiten, Kenntnisse der libyschen Küste und robustes Equipment besitzen. Diese Gruppe verfügt über ein ausgeprägtes Level an Autonomie und versucht teilweise, eine Rettung durch europäische NGOs zu umgehen, da mit dieser eine Registrierung in Europa verbunden wäre — von Seenotrettung als Pull-Faktor kann entsprechend nicht die Rede sein. Eine zweite Gruppe besteht aus Migrant*innen im Transit, welche temporär in Libyen leben. Diese gelangen über migrantische und digitale Netwerke an Informationen über Schlepper*innen und Überfahrtsmöglichkeiten. Theoretisch ist es somit denkbar, dass sie über Seenotrettung informiert sind. Bei der Ausgestaltung der Überfahrtsdetails (Abfahrtsort, Uhrzeit und Route) besitzen sie in der Regel allerdings kein Mitspracherecht, da diese von Schlepper*innen organisiert werden. Entsprechend ist die Vorstellung, die Mitglieder dieser Gruppe würden selbstbestimmt losfahren wenn sich ein Rettungsboot vor der Küste befindet eher hypothetisch. Und auch die verantwortlichen Schlepper*innen haben ein Interesse daran, dass Migrant*innen nicht von NGOs, sondern von der sogenannten libyschen Küstenwache gefunden werden. Letztere unterbindet viele Überfahrtsversuche frühzeitig und bringt Boote zurück nach Libyen, wo Migrant*innen für erneute Überfahrtsversuche zahlen müssen. Die dritte Gruppe besteht aus Migrant*innen, welche in Gefangenenlagern in Libyen festgehalten werden. Diese Migrant*innen werden – häufig unter Anwendung von körperlicher Gewalt – dazu gezwungen, Schmuggler*innen für eine Überfahrt über das Mittelmeer zu bezahlen. Eine freie Entscheidungsfindung, in welcher Seenotrettung als Faktor mitberücksichtigt wird, ist entsprechend gar nicht möglich. Ferner werden viele Überfahrtsversuche von der sogenannten libyschen Küstenwache unterbunden, welche Migrant*innen zurück in Gefangenenlager bringt, wo ihnen erneute Erpressung und Folter drohen. Der daraus resultierende Teufelskreis ist offensichtlich und – so viel Subjektivität darf sein – herzzerreißend.
„Mehr Ehrlichkeit“ sieht anders aus
Eine genauere Betrachtung der Geschehnisse im Mittelmeer zeigt, dass es unbegründet ist, die Anwesenheit von Seenotrettungsbooten als den primären Grund zur Migrationsentscheidung darzustellen. Zwar ist es nicht kategorisch auszuschließen, dass einzelne Migrant*innen Seenotrettung in ihrer Entscheidungsfindung mitberücksichtigen. Tatsächlich ist dies allerdings die Ausnahme und nicht die Regel ist. Aktuelle Forschung zeigt, dass die Motivlagen von Migrant*innen deutlich diverser sind, als es die Pull-Faktor-Theorie behauptet. Gerade hier sollte zukünftige Forschung ansetzen, um weitere und belastbare Erkenntnisse über migrantische Entscheidungsfindung zu gewinnen.
Auch wenn weitere Forschung nötig sein wird, kann die Behauptung, ein Rückzug aus der Seenotrettung verhindere, dass Menschen den gefährlichen Weg über das Mittelmeer antreten, bereits jetzt zurück gewiesen werden. Sie basiert auf einem veralteten Verständnis von Migration und offenbart zudem ein grausames Kalkül: wer den vermeintlichen Pull-Faktor Seenotrettung ausschalten möchte, nimmt das Sterben jener Menschen in Kauf, die bereits auf dem Weg sind. Wenn wir tatsächlich über „mehr Ehrlichkeit“ in der Migrationsdebatte reden möchten, dürfen wir – die europäische Gemeinschaft – vor diesen Tatsachen nicht die Augen verschließen. Alles andere würde einer Friedensnobelpreisträgerin nicht gerecht.