Commentary

Die Lehren aus Srebrenica, 20 Jahre danach

Srebrenica 20 Jahre Welt 01
Source: GlimpseofSerendipity / Flickr
30 Jun 2015, 
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Die Welt

In diesen Julitagen vor 20 Jahren ermordeten serbische Freischärler bei Srebrenica über 8000 Menschen, die meisten von ihnen Jungen und Männer. Die Vereinten Nationen hatten die Stadt zwar zur Schutzzone” für Zivilisten erklärt, doch weder die Regierungen noch die UN-Bürokratie waren bereit, ihr Versprechen einzulösen. Niederländische Blauhelme vor Ort mussten dem Morden tatenlos zusehen. Heute soll sich Deutschland sicherheitspolitisch mehr engagieren, und zwar vor allem – so Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen – aus der Verantwortung aus unserer Geschichte” und aus unserer humanitären Pflicht.” Was das konkret heißt, muss das neue Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr” ausführen.

Das ist die Gelegenheit für eine politische Debatte darüber, was wir als Deutsche und Europäer wollen, was wir können und was wir können müssen, um Menschen zumindest vor Massenverbrechen wie Völkermord zu schützen. Die Zeit für Lippenbekenntnisse ist vorbei. Eine wirksamere globale Friedenssicherung liegt nicht nur im Interesse Deutschlands und Europas, sie entspringt auch der historischen Verantwortung eines Landes, dass so viel Leid über die Welt gebracht hat.

Diese Verantwortung muss sich im Weißbuch widerspiegeln, und darüber hinaus. Es gilt, diplomatische Kapazitätslücken zu schließen und Entwicklungspolitik wirksamer als bisher auf die Prävention von Massenverbrechen auszurichten. Es gilt aber auch, diejenigen militärischen Schlüsselkapazitäten und Fähigkeiten, die andere Nationen (…) so nicht haben” (von der Leyen) für diejenigen Einsätze anzubieten, die zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Massenverbrechen und zur politischen Konfliktlösung beitragen. Auch wenn über dem Hauptquartier die hellblaue Flagge der UN und nicht die dunkelblaue von Nato oder EU weht.

Heute gibt es wieder UN-Schutzzonen, diesmal im Südsudan, wo mehr als 100.000 Menschen unter der UN-Fahne Zuflucht suchen. Manches ist besser geworden seit 1995: Die Weltgemeinschaft hat sich die Schutzverantwortung verordnet, um die Zivilbevölkerung zumindest vor Massenverbrechen wie Völkermord wirksam zu schützen. Die gut 120.000 Soldaten, Polizisten und zivilen Experten in den UN-Friedenseinsätzen sind besser organisiert und ausgestattet als früher. Fast alle haben den Auftrag, Zivilisten vor Gewalt zu schützen – vor allem mit zivilen Mitteln, um bedrohte Gruppen rechtzeitig zu warnen und politischen Druck auf Täter auszuüben. Was fehlt, ist die wirksame Verknüpfung politischer und militärischer Mittel.

Gemeinsame europäische Initiativen könnten sowohl kurzfristig als auch dauerhaft kritische Lücken schließen. Es fehlen Transportflieger, Hubschrauber, Aufklärer, Sanitäter, Militärbeobachter, Pioniere und Fernmelder, um nur einige zu nennen. Wo diese Fähigkeiten knapp sind, müssen sie mittelfristig erweitert werden.

Für die Niederlande wurde das Versagen in Srebrenica zum nationalen Trauma. Sie haben die Lehre gezogen, nie wieder militärisch unterlegen in einen Einsatz zu gehen. Heute sind sie allein mit 450 Soldaten in Mali aktiv – nicht um Krieg zu führen, sondern um einen Friedensprozess zu ermöglichen und dabei nicht von jeder Mördertruppe erpressbar zu sein. Es wird Zeit, dass Deutschland nachzieht. Der Weißbuchprozess bietet dafür eine einmalige Chance.

This commentary was originally published by Die Welt on June 302015

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