Sicherheit & Soft Power: Raus aus der Koalition der Kurzsichtigen

Europa, allen voran Deutschland, ist dabei, seine sicherheitspolitische Eigenständigkeit zu stärken – ausgelöst durch Russlands Angriffskrieg, das Erstarken autoritärer Akteure und das bröckelnde Vertrauen in die USA als verlässlichen Bündnispartner. Militärische Fähigkeiten sind entscheidend für glaubwürdige Abschreckung. Doch Sicherheit lässt sich nicht allein mit Waffen garantieren. Gerade in hybriden Konflikten wie dem Krieg in der Ukraine sind zivile Komponenten ebenso entscheidend – „Generatoren sind genauso wichtig wie Panzer“ sagte Ukraines Präsident Selenskyj völlig zurecht. Der Wiederaufbau von Städten im Irak und Dörfern im Norden Nigerias ermöglichte die Rückkehr von Millionen, die dadurch nicht mehr in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer neuer Radikalisierung und Mobilisierung durch Extremisten ausgesetzt sind.
Die Bundesregierung fasst diplomatische, sicherheits- und entwicklungspolitische Maßnahmen bis hin zu militärischen Friedenseinsätzen unter dem Begriff der Stabilisierung zusammen. Sie können Ergebnisse liefern, wenn sie strategisch eingesetzt werden und aussichtsreiche politische Rahmenbedingungen vor Ort gegeben sind. In der Ukraine etwa waren Generatoren, Trafostationen und technisches Know-how unverzichtbar, um kritische Infrastruktur schnell wiederherzustellen – und Putins Strategie, die Moral der Bevölkerung durch gezielte Zerstörung zu brechen, ins Leere laufen zu lassen. Ähnliche Effekte lassen sich in Nordostnigeria oder im Irak beobachten, wo kleinteilige Baumaßnahmen kombiniert mit lokalem politischem Engagement Sicherheit und Rückkehr ermöglichen konnten.
Diese Instrumente stecken in der Krise. Die letzte Bundesregierung hat sie durch ihre Kürzungen beim Auswärtigen Amt und BMZ deutlich geschwächt. Deutschland wird damit zunehmend Teil einer Koalition der Kurzsichtigen, mit Donald Trump an der Spitze. Trumps Zerstörung von USAID, parallel zu Kürzungen bei anderen Gebern, haben einen Erosionsprozess erzeugt, der die Sicherheitsinteressen Europas und Deutschlands gefährdet.
Für Deutschland hat der neue Außenminister Johann Wadephul seine Schwerpunkte für eine „Außenpolitik aus einem Guss“ benannt: Sicherheit, Interessenorientierung und mehr Ergebnis‑, weniger Prozessorientierung. Gerade die zivilen und zivil-militärischen Werkzeuge der Sicherheitspolitik wie Stabilisierung sind dafür unverzichtbar, aber sie müssen ergebnis- und erfolgsorientierter werden. Denn hybride Kriege – selbst in der Ukraine, wo Panzer und Raketen die größte Rolle spielen – werden nicht allein mit militärischen Mitteln entschieden. Die russische Kriegsführung, erprobt in Syrien, zielt systematisch auf die Zerstörung ziviler Lebensadern. Dass die Ukraine dem standhält, verdankt sie in erheblichem Maße auch europäischer – insbesondere deutscher – Unterstützung beim Wiederaufbau und der Diversifizierung kritischer Infrastruktur.
Auch im Westbalkan, im Kaukasus, im Nahen Osten oder in der Sahelzone steht Europa vor asymmetrischen Bedrohungen, die mit militärischen Mitteln allein nicht zu bewältigen sind. Stabilisierung und sogenannte „Ertüchtigung“ sind Schlüsselkomponenten einer zeitgemäßen Sicherheitspolitik – und Deutschland und die EU gehören weltweit zu den wenigen Akteuren, die über die Fähigkeiten und Mittel verfügen, damit effektiv politischen Einfluss auf volatile Krisendynamiken zu nehmen.
Diese Instrumente sind keine humanitäre Hilfe, sondern außenpolitische Werkzeuge zur Durchsetzung europäischer Interessen. Gemeinsam tragen Deutschland und die EU rund 50 % der globalen nicht-militärischen Investitionen in Sicherheit und Frieden. Ihre gemeinsame Führung (oder deren Fehlen) gibt die Richtung vor. Ihre Investitionen erzeugen Sogeffekte, denen sich Dutzende kleinerer Geber anschließen werden – so wie Deutschland jahrzehntelang dort hingegangen ist, wo die USA oder Großbritannien schon waren.
Nun kann weder die Bundesregierung noch die EU-Kommission die enormen Lücken schließen, die allein der Rückzug der USA an nahezu allen Krisenherden reißt. Es fehlen aber nicht einfach weitere, oft größere Projekte – es werden vielerorts genau die Projekte fehlen, die wesentliche Voraussetzungen für die Erfolgsaussichten der deutschen und EU-Projekte geschaffen haben. Oft kommt erst im Zusammenspiel mehrerer Geber das Finanzvolumen und damit auch die politische Schlagkraft zustande, die die Erfolgslogik des einzelnen Projektes glaubwürdig macht. Fällt ein Bein weg, kippt der Hocker um – und das wichtigste Bein hat Donald Trump gerade weggetreten.
Weiter so wie bisher ist deshalb keine Lösung: Deutschland und die EU müssen systematisch analysieren, wo Erfolgschancen bestehen – und sich dort fokussieren. Erste positive Erfahrungen aus Irak, Libyen oder Westafrika zeigen, dass strategische Koordinierung gelingen kann – allerdings nur, wenn sie schon in Berlin beginnt. Derzeit arbeiten AA und BMZ zu oft nebeneinander statt miteinander; Planungsverfahren bleiben häufig folgenlos.
Das Leitprinzip muss Interessen und Ergebnisorientierung verbinden. Unsere Interessen können noch so stark sein – wir sind eben nur ein externer Akteur mit begrenztem Einfluss, das hat die Enquetekommission Afghanistan in ihren Berichten eindrücklich dargelegt. Wo also die Erfolgsaussichten fehlen, lassen sie sich nicht durch die Stärke unserer Interessen erzwingen. Beide Voraussetzungen müssen vorliegen, um Prioritäten zu bestimmen.
Die Chance auf positive Ergebnisse besteht dort, wo die lokalen politischen Kräfte sie schaffen – wie in der Ukraine, im Irak, im Nordosten Nigerias oder im post-Assad-Syrien. Das sind keine Erfolgsgaranten, es sind immer noch Krisen. Es sind aber Krisen, die derart auf Messers Schneide stehen, dass auch die überschaubaren Mittel einer Gruppe von externen Akteuren wie Europa einen wesentlichen Einfluss auf die Richtung der politischen Dynamik haben können.
Wo derartige Erfolgschancen bestehen, sind die Projekte selbst noch nicht immer so kompromisslos auf erreichbare Ziele ausgerichtet wie das nötig wäre. Zu oft liegt der Schwerpunkt auf operativer statt auf strategischer Wirkung: Solide Projekte schulen Menschen, liefern Gerät, bauen Gebäude. Das klappt, viele Projekte sind gute Projekte. Aber es sind erst dann die richtigen Projekte, wenn sie alle zusammen eine echte politische Wirkung entfalten: Sicherheit und Frieden schaffen, Menschen zuhause Lebenschancen bieten, Terrorgruppen den Boden entziehen. Die Ukraine trotzt der russischen Kriegsmaschinerie nicht nur wegen westlicher Militärhilfe – sondern auch, weil sie westliche zivile Unterstützung strategisch nutzt. Das Beispiel zeigt: Nur wenn lokale Partner gute Entscheidungen treffen, wenn die Maßnahmen ineinandergreifen und sich nicht im Kleinklein verlieren, können externe Beiträge auf nationaler oder gar regionaler Ebene politische Wirkung entfalten.
Mancherorts ist das europäische Interesse an Sicherheit und Frieden überwältigend hoch, wie auf dem Westlichen Balkan, und die lokalen Voraussetzungen durchaus vorhanden – das deutsche Engagement in Bosnien oder Kosovo aber politisch kaum sichtbar oder wirksam. Hier ist mehr Ergebnisorientierung auf der politischen Ebene gefragt.
Diese Konstellation ist jedoch selten. Vielerorts ist deutscher und selbst europäischer Einfluss zu begrenzt, um gegen oder selbst mit einer kritischen Masse der lokalen Eliten sicherheitspolitisch relevante Veränderungen zu bewirken. Hier muss nüchtern geprüft werden, ob der Ressourceneinsatz angesichts begrenzter Wirkungsmöglichkeiten noch gerechtfertigt ist.
Gaza ist ein Beispiel für hohe strategische Relevanz, bei derzeit noch geringen Einflussmöglichkeiten. Doch politische Dynamiken können sich abrupt ändern – wie mit der russischen Invasion 2022 oder dem Oppositionssieg in Syrien 2024. Wer dann handlungsfähig sein will, muss vorbereitet sein: präsent vor Ort, gut vernetzt, mit einsatzbereiten Mitteln.
Dazu müssen Plattformen aufrechterhalten werden, die den Zugang zu relevanten Akteuren offenhalten – etwa durch Dialogformate, Austauschprogramme oder dezentrale Strukturen. Wo also das Interesse hoch, die Wirkungschancen aber aktuell gering sind, dort ist die Lösung nicht einfach der Ausstieg, sondern der Umstieg auf derart langfristigere Engagements als verlängerte Arme der Diplomatie in Zielgruppen, die aus einer oft kleinen Botschaft kaum erreichbar sind.
Eine derart interessen- und ergebnisorientierte Priorisierung erfolgt noch zu selten. Zu lange dominierten Wunschdenken, politischer Autopilot und Projektlogik – mit Ergebnissen, die sich im Rückblick als illusionär erweisen, wie die Beispiele Afghanistan und Mali zeigen.
Das Tragische: Diese Negativbeispiele überdecken die sichtbaren Erfolge – wie die Generatoren, die die Ukraine über drei Winter geholfen haben, oder die wieder besiedelten Dörfer in Nigeria. Solche Resultate zeigen: Strategisch eingesetzte Soft Power wirkt – wenn sie auf politisch aussichtsreiche Bedingungen trifft und als Teil eines umfassenden Ansatzes genutzt wird, der Diplomatie, Nachrichtendienste, Polizei und Militär koordiniert einsetzt.
Deutschland und die EU haben die Werkzeuge, ihre Soft-Power-Strategie zu modernisieren. Der Rückzug der USA macht es nötig – und eröffnet zugleich die Chance, wieder mehr Führungsverantwortung in einer umfassend verstandenen Sicherheitspolitik zu übernehmen.