Commentary

Europas wehrhafte Wirtschaft

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A containership is unloaded in Hamburg's port.  | Photo: Flickr/Ana Ulin (CC BY-SA 2.0)
14 Mar 2025, 
published in
Wirtschaftswoche

Im Februar gab Friedrich Merz das Versprechen, sich als Kanzler von einer zentralen Frage leiten zu lassen: Dient diese Entscheidung der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie, oder schadet sie?“ Das klingt entschlossen – und defizitär zugleich: Denn Merz’ Verständnis von Wettbewerbsfähigkeit ist einer Welt von gestern verhaftet, in der man sich noch durch Kostensenkung und Deregulierung zum Exportweltmeister küren konnte. Diese Welt gibt es nicht mehr.

Donald Trump und Xi Jinping geben den Ton in den beiden größten Exportmärkten an. Trump ist gegenüber Europa offen feindselig. Er nutzt Zölle als Waffe und will die EU als regulatorischen Akteur neutralisieren, der den Interessen von US-Technologieunternehmen potenziell schadet. Xi wiederum setzt auf eine umfassende Industriepolitik, um chinesischen Unternehmen in Deutschlands Kernindustrien – Auto, Maschinenbau, Chemie – zu globaler Dominanz zu verhelfen. Beide nutzen Abhängigkeiten rücksichtslos aus.

Merz hat mit Blick auf die Schuldenbremse und den Haushalt schnell Lernfähigkeit bewiesen. Es ist jetzt höchste Zeit, dass er die Idee der Wettbewerbsfähigkeit weiterentwickelt und den Leitgedanken der sozialen Marktwirtschaft in einer feindseligen Welt absichert.

In der Auseinandersetzung mit Trumps oligarchischem Techkapitalismus und dem autoritären Staatskapitalismus Pekings ist Systemwettbewerbsfähigkeit gefragt: eine europäische Marktökonomie, die sich gegen wirtschaftlichen Zwang und unfairen Wettbewerb zur Wehr zu setzen weiß und zu große Exportabhängigkeiten entschlossen reduziert.

Viele Apostel der Wettbewerbsfähigkeit pflegen einen einseitigen Blick auf den langjährigen Erfolg deutscher Unternehmen in globalen Märkten. Sie preisen etwa attraktive Produkte, die langjährige Lohnzurückhaltung – und weisen auf einen im Vergleich zur D‑Mark eher unterbewerteten Euro hin. Weniger im Fokus steht das sehr günstige außenpolitische Umfeld: Neben preiswerter Energie aus Russland konnten sich deutsche Firmen jahrzehntelang auf gute Geschäfte in den USA und China verlassen.

Das ist heute nicht mehr der Fall. Einerseits machen hohe Lohn- und Energiekosten sowie Überregulierung Unternehmen hierzulande zu schaffen. Andererseits verzeichnete Deutschland gegenüber den weiterhin stark wachsenden USA 2023 den größten Exportüberschuss aller Zeiten (mehr als 63 Milliarden Euro): Es spricht nicht viel für die Vermutung, deutsche Produkte seien dort nicht mehr wettbewerbsfähig. Allerdings sieht Trump in den Überschüssen einen Angriff auf US-Interessen. Er versucht mit Zöllen, eine Verlagerung der Produktion in die USA zu forcieren. Und setzt die Abhängigkeit anderer Länder skrupellos zu ihrer Erpressung ein.

Zugleich blasen chinesische Firmen mit umfassender staatlicher Unterstützung zum Frontalangriff auf Sektoren, in denen deutsche Firmen lange global führend waren. China verdrängt die deutsche Konkurrenz systematisch im eigenen Markt und überflutet den Rest der Welt mit subventionierten Gütern, um sich Wettbewerbern in Schlüsselsektoren zu entledigen. Xi macht dabei keinen Hehl aus seinen strategischen Absichten. Bereits 2020 sagte er, in allen sicherheitsrelevanten Bereichen vom Ausland unabhängig werden zu wollen. Gleichzeitig gehe es darum, die Abhängigkeit internationaler Produktionsketten von China (zu) erhöhen“.

Chinas Subventionsdoping

Statt sich dieser Agenda entgegenzustellen, blieb Kanzler Olaf Scholz (wie schon seine Vorgängerin Angela Merkel) größtenteils tatenlos, teils weil er von der Überlegenheit des deutschen Modells überzeugt war, teils aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen gegen deutsche Firmen in China. Drastischstes Beispiel war 2024 die auch von Merz unterstützte deutsche Kampagne gegen EU-Ausgleichszölle auf chinesische Elektroautos: Zu stark sind die Stimmen der Autobosse, denen kurzfristige Absatzzahlen im erodierenden Chinageschäft wichtiger scheinen als das langfristige Überleben des Unternehmens. Zu verbreitet ist die Illusion von China als Fitnesscenter für das Bestehen in anderen Märkten.

Die Konsequenz: Die deutschen Unternehmen strampeln sich brav ab – während die chinesische Konkurrenz mit Subventionsanabolika aufgepumpt wird und den Wettbewerb dominiert. So liefert sich Deutschland schutzlos einem Chinaschock 2.0 aus: Das Überleben deutscher Kernindustrien steht auf dem Spiel – auch weil aufgrund der zunehmenden Schließung des US-Markts chinesische Überkapazitäten in die EU kanalisiert werden.

In dieser Gemengelage ist es riskant, allein darauf zu setzen, durch angebotsseitige Reformen wieder zum Exportweltmeister zu werden. Sicher: Es braucht die Vereinfachung von Regulierung und Berichtspflichten, niedrigere Energiepreise, die Beseitigung des Facharbeitermangels. Merz’ Absicht, gute Rahmenbedingungen für alle und nicht hohe Subventionen für wenige“ zu schaffen, ist richtig. Allerdings wird auch ein umgebauter, digitalisierter Staat gerade in hochinnovativen Bereichen künftig eine wichtige Rolle spielen – so wie es gerade in den USA immer der Fall gewesen ist.

Zweifelsohne gibt es weiter große Exportmärkte, zu denen Zugangsbarrieren möglichst abgebaut werden sollten. Es ist richtig, Handelsabkommen etwa mit Indien und Lateinamerika zügig abzuschließen. Vor allem mit Blick auf China und die USA aber bedarf es eines neuen Modells der Systemwettbewerbsfähigkeit, das Deutschlands Wohlstand und Sicherheit entschlossen schützt.

Erstens müssen wir mehr Maßnahmen zum Schutz von Schlüsselsektoren vor unfairem Wettbewerb treffen. Es gilt auf nationaler und europäischer Ebene, je nach Fall Instrumente passend einzusetzen: von Ausgleichszöllen über Made-in-EU-Klauseln bis hin zur Schärfung von Standards für Importgüter. Sicherheitsrelevante Bereiche bedürfen gesonderter Vorschriften – so wie es die USA mit einer im März in Kraft tretenden Regel, die chinesische Anbieter vom amerikanischen Markt für vernetzte Fahrzeuge ausschließt, vormachen. Im Rahmen der WTO-Regeln, wenn möglich, darüber hinaus, wenn nötig: Das muss die Richtschnur in einer Welt sein, in der sich weder China noch die USA an Grundregeln der multilateralen Handelsordnung halten.

Zweitens muss die Bundesregierung auf EU-Ebene Instrumente gegen wirtschaftliche Zwangsausübung weiterentwickeln und ihre Anwendung im Ernstfall entschlossen mittragen. Kontrolle über den Zugang zum weiterhin hochattraktiven europäischen Markt bleibt dabei der wichtigste Hebel. Ihn sollte die EU künftig noch bewusster einsetzen. Zugleich gilt es, über den Abbau eigener Abhängigkeiten gegenüber China und den USA Positionen der Stärke in technologischen Nischen aufzubauen – um sie bei Bedarf auch politisch nutzen zu können. Da es für Europa nicht realistisch ist, alle Abhängigkeiten gegenüber unverlässlichen Akteuren zu vermeiden, wird die eigene strategische Unverzichtbarkeit“ in Zukunft noch wichtiger, gerade gegenüber den USA.

Drittens muss die nächste Bundesregierung mithelfen, den EU-Binnenmarkt grundlegend zu stärken, und dafür sorgen, dass Deutschland durch mehr Binnennachfrage weniger abhängig von Exporten außerhalb der EU wird. Hierzu gehört der Abbau verbleibender Barrieren in Europa, die immer noch einem Zoll von 45 Prozent auf Güter und von 110 Prozent auf Dienstleistungen entsprechen.

Viertens müssen die überfälligen Investitionen in Verteidigung und Infrastrukturmodernisierung so vorgenommen werden, dass ein großer Teil des Nachfrageeffekts europäische Anbieter und Produktion stärkt. Und fünftens schließlich gehören auch Verteilungsfragen ins Zentrum der Diskussion über ein resilienteres Wirtschaftsmodell. Immer größere Vermögenskonzentration und Einkommensungleichheit bergen nicht nur politischen Sprengstoff, sondern stehen angesichts der deutlich höheren Konsumquote bei niedrigen Einkommen auch dem Ziel entgegen, die Exportabhängigkeit zu verringern.

Fazit: Noch nie in ihrer Geschichte befand sich die Bundesrepublik so unter Druck wie heute. Nur wenn wir durch ein beherztes Zusammenspiel von Reformen, Investitionen und Schutzmaßnahmen systemwettbewerbsfähig werden, können wir die Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft fortschreiben und gleichzeitig auf der Basis wirtschaftlicher und technologischer Stärke auch militärisch abschreckungs- und verteidigungsfähig werden.


Dieser Kommentar wurde ursprünglich am 14. März 2025 in der Wirtschaftswoche veröffentlicht.