Interview

„Man hat Putin falsch eingeschätzt“

Friedrich 2022 Groesste Zaesur seit 1945
A soldier from the "Azov" regiment of the Ukrainian National Guard takes part in a march on the Day of the Defenders of Ukraine in Kyiv in 2020. Source: spoilt.exile / Flickr  | Photo:
27 Feb 2022, 
published in
watson

Frau Friedrich, Sie arbeiten für das Global Public Policy Institute in Berlin von Kiew aus. Sind Sie aktuell noch dort?
Ich bin seit zwei Wochen in Berlin. Mein ganzes Leben ist aber noch in Kiew. Es ist furchtbar, was gerade passiert.

Haben Sie mit einem Angriff Russlands auf die Ukraine gerechnet?
Da muss ich ehrlich sein: Mit einem so schnellen und krassen Angriff habe ich nicht gerechnet. So richtig konnte sich das niemand vorstellen. Ein offener Angriff Russlands auf die Ukraine wurde in Expertinnenkreisen wegrationalisiert. 

Liegt es daran, dass man den russischen Präsidenten Wladimir Putin unterschätzt hat?
Ich würde nicht sagen, unterschätzt. Man wusste, dass er ein skrupelloser Herrscher ist. Aber man hat ihn falsch eingeschätzt.

Die USA haben im Vorfeld Geheimdienstinformationen publiziert und vor einem Angriff gewarnt.
Viele dachten, das sei eine Abschreckungsstrategie der USA. Nach dem Motto: Sobald Russlands Strategie in der Öffentlichkeit steht, würden sie auch nicht in die Ukraine einmarschieren.

Es kam anders.
Der Angriff auf die Ukraine fällt aus dem Rahmen. Bislang hat man die russische Außenpolitik anders verstanden.

Wie denn?
Russland leugnet seit Jahren die ukrainische Souveränität. Das ist nicht neu. Aber bisher wartete Russland immer auf eine offensichtlichere“ Provokation. Bevor der Krieg in Georgien 2008 startete, hiess es von russischer Seite, georgische Soldaten hätten zuerst geschossen. Auch bei der Annexion der Krim versuchte man Vorwände vorzuschieben, warum Russland einmarschiert. Das ist in diesem Fall anders. Die Begründungen Putins, warum er die Ukraine bombardiert, sind nicht mehr glaubwürdig. Sie sind nur noch politisch.

Was bedeutet es für den Frieden im Westen, dass Russland mit Raketen, Soldaten und Panzern ins Nachbarland einmarschiert?
Putin hat die etablierten Prinzipien und völkerrechtlichen Verträge missachtet. Er hat die europäische Friedensordnung mit Füssen getreten. Russland führt einen offenen Angriffskrieg auf ein europäisches Land. Das ist die grösste Zäsur seit 1945

Weder die USA noch die Nato werden mit militärischen Mitteln reagieren. Steht der Westen Russland hilflos gegenüber?
Auch wenn militärische Optionen nicht auf dem Tisch liegen, ist der Westen nicht komplett hilflos. Wladimir Putin weiss, dass sich die Nato und die USA hüten werden, Truppen zu schicken. Und damit spielt er offensichtlich auch. In seiner Rede sagte er, dass Russland mit nie dagewesenen Massnahmen reagieren werde, wenn sich andere Länder militärisch wehren. 

Das heisst, der Westen kann nur zuschauen?
Putin ist gewillt zu schiessen, wir nicht. Die EU und die USA haben aber Sanktionsmöglichkeiten. Diese sind noch nicht ausgeschöpft. Ich weiss nicht, wie klug es ist, weitere Eskalationsstufen abzuwarten. Russland marschiert in die Ukraine ein. Der schlimmste Fall ist bereits eingetroffen. Man sollte mit den schlimmsten Massnahmen reagieren. 

Was passiert, wenn es Russland gelingt, die Ukraine zu besetzen? Zieht Putin dann weiter gen Nordwesten und greift die baltischen Staaten an?
Komplett ausschliessen würde ich das nicht. Aber Staaten wie Litauen, Lettland und Estland sind Bündnispartner der Nato. Diese Länder anzugreifen, das ist eine andere Kragenweite. Auch die Nato wird ernste Unterhaltungen über bewaffnete Konflikte führen müssen. Und die Präsenz im Osten erhöhen. Sorgen mache ich mir eher um andere Gebiete.

Welche?
Ich halte die Gefahr einer russischen Invasion in Moldawien und Transnistrien für akuter. Bereits seit Anfang der 90er Jahre sind dort russische Friedenstruppen“ stationiert, die ein international nicht anerkanntes Regime stützen. Es ist nicht auszuschliessen, dass dort eine weitere Front entsteht.

Am Freitag hiess es plötzlich, dass Russland bereit sei für Friedensverhandlungen. Kann man dieser Ansage trauen?
Da bin ich sehr misstrauisch, wie ernst das wirklich gemeint ist. Da wird man abwarten müssen. Und bevor die Ukraine überhaupt über Frieden verhandeln wird, müssten sich die russischen Truppen aus dem Land zurückziehen. 

Kann so etwas wie eine europäische Friedensordnung mit Russland überhaupt wieder hergestellt werden?
Solange Putin regiert, kann ich mir eine neue Friedensordnung schwer vorstellen. Eine europäische Sicherheitsordnung funktioniert nur dann, wenn sich alle Mitglieder an rechtliche Bestimmungen wie beispielsweise das Völkerrecht halten. Putin strebt nach Macht und missachtet das Völkerrecht. 

Wie viele Bewohnende Russlands unterstützen die Pläne ihres Machthabers? 
Für viele ist die Situation extrem schwierig. Vergangenes Jahr gab es grosse Proteste, als der russische Oppositionelle Alexej Nawalny festgenommen wurde. Diese wurden mit viel Härte niedergeschlagen. Am Donnerstag wurden mehr als 1700 Menschen in 44 Städten festgenommen, weil sie gegen den Krieg demonstrierten. Protestieren ist in Russland eine gefährliche Sache, daher sind die Demonstrationen bisher klein. Ausserdem haben sich viele Menschen aus der Politik zurückgezogen. Aber das gilt nicht für alle Russinnen und Russen. Es gibt sicherlich auch Teile der Bevölkerung, die tatsächlich der Meinung sind, dass Putin die Ukraine gerade von einem faschistischen Regime befreit. 

Wie geht es für Sie nun weiter? Werden Sie nach Kiew zurückkehren?
Ich hoffe es. Aber ob ich zurückkann, ist erstmals nebensächlich. Zuerst muss der Zivilbevölkerung in der Ukraine geholfen werden. Viele wollen das Land so schnell wie möglich verlassen. Die internationale Gemeinschaft sollte nicht nur Sanktionen gegenüber Russland aussprechen, sondern sich auch auf das vorbereiten, was noch kommt. Es wird humanitäre Hilfe vor Ort brauchen. Und auch die Nachbarstaaten der Ukraine müssen sich auf unzählige geflüchtete Menschen vorbereiten.


This interview was originally published in watson on February 272022