Ukraine-Konflikt und Deutschland: Dialog und Härte
Vor einigen Jahren sprach ich mit einem russischen Investigativjournalisten in Moskau. Ich fragte ihn, wie man effektiv einerseits die offizielle Kremlpolitik kritisieren und andererseits Menschen wie ihn unterstützen könne, um so ein differenziertes Bild Russlands in Deutschland darzustellen. Er sagte mir, er sehe das Problem nicht: Man müsse eben richtig und falsch zu unterscheiden wissen, das eine unterstützen und das andere nicht.
Genau dies gelingt derzeit nicht: Die neue Bundesregierung findet ebenso wenig wie ihre Vorgänger einen Weg gegenüber Russland, der diese Trennlinie zwischen Unterstützung und Kritik klar zieht. Härte gegen den Kreml wird als geschichtsvergessene Russophobie ausgelegt.
Moskau hält währenddessen Kiew und die internationale Gemeinschaft mit einer drohenden erneuten Invasion der Ukraine in Atem. Wie weit genau der Kreml gehen wird, darüber spekulieren seit Monaten Expert*innen, Politiker*innen und selbsternannte Kremlinolog*innen; wissen tut es niemand.
In Deutschland dauert es Wochen, bis innerparteiliche Streits und innerkoalitionäres Krachen in die holprig nach außen kommunizierte Aussage münden, dass „alles auf dem Tisch“ sei, wenn es um Sanktionen gehe. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch Verunsicherung über den Willen zu Sanktionen bleibt, Waffenlieferungen werden ausgeschlossen.
Die Geduld mit Berlin verloren
Die Ukraine hat schon längst die Geduld mit Berlin verloren, auch unter Alliierten schaut man verwundert auf das Land, das 2014 immerhin noch den Führungsanspruch bei einer europäischen Antwort auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und den Krieg im Osten der Ukraine anmeldete.
Wie sollte Deutschland also auf die reale Bedrohung einer weiteren russischen Invasion der Ukraine reagieren? Mit voller Härte gegenüber Russland, meinen die einen; mit Dialogbereitschaft und bloß nicht zu deutlichen Worten die anderen. Die Bundesregierung sagt: Wir brauchen beides – „Dialog und Härte“.
Doch dieser Plan geht zurzeit nicht auf: In Medien und auf diplomatischen Kanälen wird der Unmut von Alliierten und Partnern deutlich, was Deutschlands Willen zur Härte angeht. Und deshalb kommt auch kaum Dialog zustande: Moskau möchte nicht mit Berlin sprechen, sondern mit Washington.
Wenn Deutschland als Gesprächspartner ernst genommen werden möchte, muss es sich in eine Position der Stärke begeben. Zu diesem Ziel wird die neue Koalition drei Schritte gehen müssen: Russland begegnen, wie es ist, die Ukraine als vollwertigen Partner anerkennen, und die selbst verschriebene Sonderrolle unter Alliierten aufgeben.
Russland begegnen, wie es ist
Markus Söder sagte kürzlich in einem Interview: „Niemand kann einen Krieg in Europa wollen.“ Die Wahrheit ist: Der begrenzte und zum Teil verdeckte Einsatz militärischer Mittel hat sich in der Vergangenheit für Russland zum Erreichen politischer Ziele bewährt – in Libyen, in Syrien, in der Ostukraine. Militärische Mittel sind nicht für alle Länder per se ausgeschlossene Instrumente aus dem letzten Jahrhundert.
Doch anstatt mit Härte gegenzusteuern, ist man in Berlin damit beschäftigt, verirrten Marine-Offizieren und Politiker*innen insbesondere des linken Spektrums Selbstverständlichkeiten immer wieder zu erklären: Die Annexion der Krim war völkerrechtswidrig. Der Kreml ist kein „verlässlicher Partner“.
Moskau hat jeglicher Form zivilen Aktivismus die Daumenschrauben angelegt: Die älteste, bekannteste Menschenrechtsorganisation Memorial wurde liquidiert, Alexei Nawalny persönlich erst diese Woche zum „Terroristen“ deklariert. Wiederum geht es nicht um Russophobie, sondern es gilt, zwischen Regierung und Zivilgesellschaft zu unterscheiden.
Außenministerin Baerbock hat diesen Unterschied bei ihrem Besuch in Moskau rhetorisch deutlich gemacht, doch dies schlägt sich nicht in der Politik der gesamten Bundesregierung nieder. Jenen, die „endlich Dialog auf Augenhöhe“ fordern, sei gesagt: Jeder dieser vergangenen Versuche mit Russland ist gescheitert. Da muss man nur mal den französischen Präsidenten Macron fragen, was aus seinem „dialogue stratégique“ wurde – das gleiche, wie aus dem „Reset“ von Ex-US-Präsident Obama: nichts.
Das Vertrauen der Ukraine wiedergewinnen
Die Ukraine selbst ist zwar ständig Thema, aber vor allem Schauplatz für das Austarieren deutscher Russlandpolitik. Wenn Deutschland den Anspruch an eine vermittelnde Rolle stellt, dann muss es nicht nur Russlands Vertrauen haben, sondern auch jenes der Ukraine wiedergewinnen.
Die deutsch-ukrainischen Beziehungen standen spätestens seit Sommer 2021 auf einem Tiefstand: Das Drama um die Gaspipeline Nord Stream 2 war ein kommunikatives Desaster, und Berlin wollte davon nichts wissen. Außenministerin Baerbocks jüngste Äußerung in Kiew, dass Deutschland keine Waffen in die Ukraine liefern könne aufgrund der historischen Verantwortung gegenüber Russland, zeugt davon, wie weit Berlin von der Lage vor Ort entfernt ist.
Für Ukrainer*innen, deren Land während des Zweiten Weltkriegs von Nazideutschland okkupiert wurde und einer der Hauptschauplätze des Holocausts war, wirkte das wie Hohn. Außer Frage: Der Umgangston insbesondere des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk in Deutschland erreicht bisweilen recht schrille Lagen. Dazu gehört auch, dass Berlin in politischen Kreisen Kiews bereits als „Komplizin“ Moskaus bezeichnet wurde.
Die Unzufriedenheit mit Deutschland geht mittlerweile aber auch darüber hinaus: Selbst der Berlin eigentlich zugewandte ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bestellte vergangenes Wochenende die deutsche Botschafterin ein. Dabei gibt Deutschland seit 2014 so viel Geld für den demokratischen Umbruch der Ukraine aus wie für kaum ein anderes Land. Der fehlende Aufwand, dies aktiv in die Ukraine hinein zu kommunizieren, macht sich nun bemerkbar.
Kiew muss handeln – aber auch gehört werden
Dabei heißt die Ukraine und ihre Interessen ernst zu nehmen, bei Weitem nicht, alles gutzuheißen, was Kiew tut – sondern der Ukraine Verantwortung für ihre Zukunft zuzuweisen, beispielsweise für stockende Reformbemühungen, die derzeit völlig unter den Tisch fallen. Der deutsche Einsatz dafür, das Normandie-Format wiederzubeleben, ist der Schritt in die richtige Richtung, damit Kiew wieder an Gesprächen über die Ukraine beteiligt ist. Wiederum wird auch dieser Versuch ohne gleichzeitige Härte nicht erfolgreich sein, weil sich Russland sonst nicht mit an den Tisch setzt – oder lediglich auf Beraterebene.
Deutschland riskiert derzeit, sein internationales Ansehen langfristig zu schädigen. Das Selbstverständnis, als einst geteiltes Land eine Art natürliche Brücke zwischen Ost und West zu sein, ist so stark, dass diese Rolle nicht mehr hinterfragt wird. Und das, obwohl die Zweifel von Kiew bis Washington an der Umsetzung der teils halbgaren Versprechen der Bundesregierung stetig wachsen. Solche Misstöne in der Allianz werden in Moskau registriert und im Zweifelsfall schonungslos ausgenutzt werden.
Es wird Zeit, dass die Bundesregierung aufhört, eine Sonderrolle für sich zu beanspruchen. Zu einer Allianz gehört stets die Arbeitsteilung, wie auch von der Außenministerin vor dem Bundestag proklamiert. Arbeitsteilung funktioniert aber nicht, wenn man sich zwischen „Dialog und Härte“ vornehmlich auf die Härte der anderen verlässt, weil man selbst ja die Brücke zum Dialog ist. Unter Angela Merkel war Deutschland Zugpferd für den Russland-Kurs der EU – diese Rolle muss Kanzler Scholz nun einnehmen, und gleichzeitig weiter gehen als seine Amtsvorgängerin, was die Härte angeht.
Die selbst verschriebene Sonderrolle abzulegen bedeutet auch, nicht die Lieferung von defensiven Waffen an die Ukraine durch andere Alliierte zu blockieren. Wenn direkte deutsche Waffenlieferungen in der jetzigen Regierungskonstellation wirklich nicht oder nur langfristig zu machen sind, dann kann man sich, wie bereits geschehen, auf militärische Ausrüstung abseits von Waffen für die Ukraine konzentrieren – sollte davon aber ausreichend liefern. Der Spott in Reaktion auf eine erste Lieferung von gerade einmal 5.000 Schutzhelmen zeigt, dass solche Maßnahmen von einer klugen Kommunikationskampagne in die Ukraine wie nach Deutschland hinein begleitet sein sollten.
Richtig und falsch im Umgang mit Russland
„Wir brauchen Dialog mit Russland“ – Ja! Natürlich brauchen wir Dialog. Die Frage ist, welchen Dialog und aus welcher Position heraus. Gespräche, die darauf basieren, dass Russland der Ukraine die Pistole an den Kopf setzt, sind jedenfalls nicht der viel beschworene Dialog auf Augenhöhe.
Eine deutsche Politik, die Russland jetzt mit Stärke entgegentritt, kann auch einen langfristig angelegten Dialog über Sicherheit in Europa anregen. Dieser muss auf der Souveränität aller Staaten, inklusive der Ukraine, und auf regelbasiertem Multilateralismus fußen. Das wäre eine wertebasierte Außenpolitik wie von der neuen Koalition proklamiert. Das wäre ein Weg, richtig und falsch im Umgang mit Russland voneinander zu unterscheiden.
This commentary was orignially published in taz on January 29, 2022.