Russland-Sanktionen: Einmischen, nicht ausweichen
Mitte März hat sich die russische Annexion der Krim fast unbemerkt zum sechsten Mal gejährt. In Anbetracht der momentanen gesundheitspolitischen Lage in den Hintergrund gerückt, bleibt der Druck auf die europäische Russlandpolitik dennoch hoch – allerdings nicht wegen der Krim, sondern aufgrund russischer Angriffe im syrischen Idlib. Dort harren immer noch zwei Millionen Menschen an der Grenze zur Türkei aus.
Sollten Russland und das syrische Regime ihre Luftschläge wieder intensivieren, werden Hunderttausende keine andere Wahl haben, als in die Türkei und nach Europa zu fliehen. Dabei bleibt die europäische Politik fragmentiert. Insbesondere der französische Präsident Macron sucht seit dem vergangenen Jahr bei diesem Thema seinen eigenen Weg und hat eine Charmeoffensive gegenüber Russland gestartet. Einige seiner mittel- und osteuropäischen EU-Partner betrachten diesen Vorstoß mit Skepsis, insbesondere weil der französische Präsident bereit scheint, Putin Zugeständnisse bei heiklen Themen wie der Ukraine oder der ausgesetzten G8-Mitgliedschaft Russlands zu machen.
Die Bundesregierung sollte Macron mit seiner Politik gegenüber Russland keinesfalls alleinlassen. Sie sollte als Gestalterin auftreten und den französischen Präsidenten zu einer Kursänderung bewegen, da Macrons Bestreben nach einer Normalisierung der Beziehungen mit Moskau in der momentanen Situation keine Früchte trägt. Dabei sollte Deutschland auf neue Sanktionen für die gut dokumentierten russischen Kriegsverbrechen in Syrien drängen.
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz erklärte der französische Präsident, niemand sei bereit, „brutal“ zu Russland zu sein. In Ermangelung anderer Optionen sei deshalb ein strategischer Dialog mit Moskau gefragt. Dabei scheint der französische Präsident etwas übersehen zu haben: die Ukraine. Denn ohne eine Kursänderung der Ukrainepolitik des Kremls bedeutet jede Normalisierung der Beziehungen zu Moskau ein faktisches Akzeptieren des Status quo im Donbas und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Putin wird keinen Frieden im Donbas tolerieren, solange nicht sein Einfluss garantiert ist. Eine Garantie russischer Einflussname nach Moskaus Vorstellungen würde aber einen nachhaltigen gesellschaftlichen Frieden in der gesamten Ukraine unmöglich machen und ist daher nicht im europäischen Interesse. Dieses Dilemma stellt ein zurzeit unlösbares Problem für die EU dar. Macrons Normalisierungsbemühungen riskieren eine Tolerierung von Russlands Einfluss, wenn dadurch Vorteile bei den für Frankreich wichtigen Themen entstehen.
Macrons Einschätzung, dass Europa trotz allem in Dialog mit Russland treten muss, ist natürlich nicht falsch. Es wäre aber fatal, sich der Illusion hinzugeben, dass sich Putin im Gegenzug für Zugeständnisse wie eine Wiederaufnahme in die Gruppe der G8 plötzlich an Absprachen halten wird. Bereits der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass man Putin eine europäische Agenda nicht aufzwingen kann. So auch in Syrien: Trotz aller Annäherungsbemühungen des französischen Präsidenten scheiterten Macrons Versuche, gemeinsam mit Angela Merkel ein Ende der russischen Kampfhandlungen in Syrien zu erwirken. Der Waffenstillstand in Nordsyrien wurde von Putin und dem türkischen Präsidenten Erdoğan direkt und ohne Zutun der Europäer ausgehandelt. Es bleibt fragwürdig, wie lange er hält.
Die Bundesregierung sollte in Bezug auf Russland entschieden handeln, anstatt Macron auszuweichen, wie sie es in den letzten Jahren beispielsweise beim Thema EU-Reformen getan hat. Das bedeutet einerseits, im Hinblick auf die Ukraine weiterhin auf eine klare Linie zu pochen. Andererseits sollte die Bundesregierung Frankreich entschlossen zu neuen EU-Sanktionen gegen Moskau drängen. Diese Forderung wurde inzwischen auch in Berlin laut, unter anderem von der grünen Außenpolitikerin Franziska Brantner und von Norbert Röttgen, Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages und Kandidat für den CDU-Parteivorsitz. Allerdings sollten Sanktionen umfassender sein als die geforderten individuellen Sanktionen gegen russische Generäle, die Kriegsverbrechen verübt haben. Um Frankreich von weiteren Sanktionen zu überzeugen, muss die Bundesregierung ein Zeichen setzen und dort agieren, wo es dem Kreml wirklich schadet: beim Bau der Gaspipeline Nord Stream 2.
Ein umfassendes, neues Sanktionspaket, welches einen Stopp der Fertigstellung von Nord Stream 2 beinhaltet, würde Frankreich und anderen europäischen Partnern zeigen, dass die Bundesregierung es ernst meint. Diese Maßnahme wäre nicht „brutal“, aber entschlossen. Das ist die beste Chance für Europa, mit zivilen Mitteln von Putin Zugeständnisse in Syrien zu erlangen. Durch das Coronavirus wird vieles auf dem Prüfstand stehen, doch eine entschlossene Haltung gegenüber russischen Kriegsverbrechen sollte nicht dazugehören.
Auch hier sind Erkenntnisse aus dem Ukrainekonflikt instruktiv. Zwar hat sich Putin durch Sanktionen nicht zu einem Rückzug aus dem Donbas bewegen lassen. Befürworter der Sanktionspolitik betonen aber, dass diese dazu beigetragen hat, eine weitere Eskalation in der Region zu verhindern. Und: Die Europäische Union hat gezeigt, dass sie dem russischen Völkerrechtsbruch nicht einfach untätig zusieht. Mit Blick auf Syrien scheinen die Mitgliedstaaten außerstande, eine ähnlich konzertierte Politik zu formulieren. Ein Beschluss von weiteren Sanktionen würde diese Untätigkeit beenden. Das wäre nicht nur richtig in Anbetracht der katastrophalen Lage in Syrien − es wäre auch ein wichtiger Schritt hin zu einer strategischeren europäischen Außenpolitik gegenüber Russland, welche aus der Krim-Annexion gelernt hat.
This commentary was originally published in taz on April 2, 2020.