Zwischen Ertüchtigung und Wertewandel
Allgemein gesprochen meint Sicherheitssektorreform (SSR) eine planmäßige Verbesserung der bestehenden Strukturen und Arbeitsweisen im Sicherheitssektor eines Landes mit dem Ziel, mehr Sicherheit für die Bevölkerung zu schaffen. Einerseits kann dies erreicht werden, wenn Polizist_innen und Soldat_innen in einem Land gut ausgestattet und ausgebildet sind; sie müssen Ermitteln, Patrouillieren und Schießen können. Andererseits garantiert nur die Kontrolle durch eine demokratisch gewählte Regierung, dass Sicherheitsorganisationen ihre Macht nicht für Partikularinteressen und repressiv gegen die eigene Bevölkerung einsetzen. In vielen Entwicklungs- und Konfliktländern fehlt es oftmals an beidem: Demokratie und effektiven Sicherheitskräften. Nachhaltige Entwicklung wird jedoch nur durch ein sicheres und stabiles Umfeld ermöglicht. Das Konzept der SSR beschäftigt sich daher mit Wegen der externen Unterstützung bei der Neuordnung des Sicherheitssektors nach den Kriterien des demokratischen Rechtsstaats, um so letztlich die Sicherheit für die Bevölkerung zu erhöhen.
Diese Studie verfolgt drei Ziele: Zunächst gibt sie einen Überblick über das Konzept der SSR-Unterstützung und analysiert, welche Entwicklungen und Trends bei den relevanten Akteuren zuletzt zu beobachten waren. Auf dieser Basis identifiziert sie die Herausforderungen, mit denen sich Praktiker_innen bei der Umsetzung von SSRMaßnahmen konfrontiert sehen und welche Lösungsstrategien sie dabei verfolgen. Abschließend legt sie mit Blick auf diese Informationen Gründe und Ansätze für SSR-Engagement der deutschen Zivilgesellschaft dar. Die Datengrundlage bilden 59 Interviews mit Experten und Expertinnen sowie die Analyse von Konzeptpapieren und Studien zur SSR-Thematik.
Vier Trends lassen sich bei den Akteuren international beobachten: (1) Einige wenige Staaten ziehen den Groß- teil der westlichen SSR-Unterstützung auf sich. 2011 entfiel mehr als die Hälfte der von der OECD erfassten SSR-Unterstützung auf nur zwei Staaten: Afghanistan und Kosovo. Durch das Raster der globalen Aufmerksamkeit fallen dagegen Länder, in denen zwar kein offener Bürgerkrieg herrscht, aber ein hohes Gewaltniveau besteht. (2) Wie auch in der Entwicklungszusammenarbeit allgemein, treten bei SSR nicht-westliche Staaten als neue Geber in Erscheinung. Sie lehnen die Wertekondi tionierung externer Hilfe ab, das heißt den Export demokratischer Werte als Teil der Sicherheitssektorreform. (3) Auch Organisationen mit kommerziellen Absichten spielen eine wachsende Rolle bei SSR. Sie vernachlässigen aus Sicht von Kritiker_innen »weiche Ziele« von SSR, wie demokratische Kontrolle oder Menschenrechte. (4) Zuletzt zeigt sich eine deutliche Kluft zwischen den anspruchsvollen Zielen der demokratischen SSR und den – angesichts von Millioneninvestitionen – recht dürftigen Resultaten in einigen Ländern.
Bei der Ausgestaltung von SSR-Maßnahmen verfolgen Praktiker_innen vier idealtypische Ansätze: Ertüchtigung steht für Maßnahmen, deren Ziel primär der Kapazitätsaufbau von Fachorganisationen durch Amtshilfe ist. Staatsaufbau ist umfassender, steht aber vor dem Problem einer wirksamen Transformation eines komplexen Gesamtsystems. Risikoreduktion vor Ort ist ein dezentraler Ansatz, bei dem die menschliche Sicherheit der Bevölkerung im Vordergrund steht. Auch Wertewandel hat den Schutz der Bevölkerung im Blick, allerdings vor allem durch die Sicherstellung wirksamer demokratischer Sicherheitsgovernance.
Der richtige Kompromiss zwischen hohem Anspruch und Realismus ist noch nicht gefunden. Einerseits zeigt sich beim Vergleich der vier Ansätze, dass empirisch heute Maßnahmen dominieren, die in technischen Nischen die Ertüchtigung von Sicherheitsbehörden wie dem Militär, der Polizei oder der Justiz vorantreiben. Das Ziel ist die Verbesserung der Sicherheitsleistung, nicht die Veränderung von Sicherheitsgovernance. Andererseits betonen Expert_innen, dass nur ein demokratisch kontrollierter Sicherheitssektor langfristig den Schutz der Bevölkerung sicherstellen kann. Dies beugt Machtmissbrauch vor und schafft einen Interessensausgleich zwischen den Sicherheitsinteressen des Staates und denen der Bevölkerung. Bei SSR ohne demokratischen Wandel droht letztlich nur die nächste Autokratie.
Demokratischer Wandel steht bei SSR heute aus zwei Gründen nicht im Mittelpunkt: Erstens lehnen neue Geber Demokratieförderung als Teil von SSR ab. Die SSR-Konzepte der UN sprechen heute nur von »ziviler Kontrolle«, ohne zu klären, wie diese ausgestaltet sein soll. Zweitens führt die Erfahrung dürftiger Resultate bei einigen SSR-Prozessen dazu, dass neuere Projekte heute bescheidenere Ziele setzen. Diese Erosion der SSR-Agenda riskiert, dass die demokratische Sicherheitsgovernance noch weiter aus dem Blick gerät. Daher braucht es realistische Zwischenziele, während langfristig das Ziel einer umfassenden Transformation nicht aus dem Blick geraten darf.
Ein weiterer Schlüssel ist ein politisches Verständnis von SSR. Externe Unterstützer dürfen sich nicht alleine auf den Aufbau funktionaler Kapazitäten konzentrieren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit müssen neben den formalen Sicherheitsorganisationen vor allem die Machteliten eines Landes stehen. Jede Reform führt zu Gewinnern und Verlierern. Gerade in autoritär regierten Ländern droht den Eliten nach einer Reform die Aufarbeitung ihres repressiven Handelns – mit teilweise gravierenden persönlichen Konsequenzen. Hier können externe Akteure Garantien anbieten oder gegebenenfalls Druck ausüben.
SSR kann nur Erfolg haben, wenn vor Ort Interesse am Wandel (ownership) besteht. Da dies nicht immer der Fall ist, müssen externe Akteure noch differenzierter ansetzen und geduldiger sein als bisher. In autokratischen Staaten sollte es zunächst darum gehen, langsam Raum für Reformen zu schaffen. In Nachkriegsgesellschaften ist hingegen kurzfristige Stabilität gefragt. Auch hier sind Machtkontrollen wichtig, jedoch nicht immer umgehend durch demokratische Institutionen. Fehlt es in einem Land an jeglichem Raum für Wandel, ist keine Hilfe besser, anstatt die falschen Gruppen zu unterstützen.
Eine politische SSR-Unterstützung sollte vor Ort vor allem von einflussreichen Botschaften oder Friedensmissionen getragen werden. Doch auch deren Einfluss ist nur sehr begrenzt. Neue Geber bieten SSR heute ohne entwicklungspolitische Konditionalität an. Am besten funktioniert SSR daher im Zusammenspiel mit einem bereits bestehenden gesellschaftlichen Transformationsprozess. Risiken bestehen jedoch immer: Vernachlässigt SSR die demokratische Kontrolle, drohen Rückschritte beim Wandel der Gesellschaft; ignoriert SSR die Machtinteressen einflussreicher Eliten, droht Gewalt.
Zivilgesellschaftliche Organisationen können bei SSR eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund ihrer langfristigen Perspektive und Vernetzung vor Ort sind sie besonders gut in der Lage, unterhalb der Schwelle von offiziellen zwischenstaatlichen Verhandlungen den Dialog mit Sicherheitsakteuren zu führen und politisch schwierige Zeiten zu überdauern. Natürlich ist ihr Einfluss beschränkt, und in vielen Ländern werden sie mehr geduldet als akzeptiert. Doch gerade wenn es vor Ort an politischem Interesse für Reformen mangelt, können sie die lokale Zivilgesellschaft unterstützen, bei einflussreichen Eliten für Veränderungen werben und erste Schritte anstoßen.
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This study was produced as a collaboration between the Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) and GPPi. Its updated English version is also available.