Commentary

Indien ist Deutschlands Partner der Stunde

Hensing Scholz 2024 Indien Partner der Stunde
23 Oct 2024, 
published in
ntv.de

Indien wird für Deutschland zu einem immer wichtigeren Partner. Das verdeutlicht die bisher höchstrangige Delegation der deutsch-indischen Regierungskonsultationen, bei denen Bundeskanzler Olaf Scholz diese Woche unter anderem vom Wirtschafts- und Verteidigungsminister begleitet wird. Pünktlich zu dem alle zwei Jahre stattfindenden Austausch beschloss die Bundesregierung am vergangenen Mittwoch auch das Grundsatzpapier Fokus auf Indien” — effektiv Deutschlands erste Indien-Strategie. Erklärtes Ziel ist, die 24 Jahre alte strategische Partnerschaft auf eine neue Ebene” zu heben.

Dieses Ansinnen ist wichtig und dringend. Um es in die Praxis umzusetzen, muss Deutschland aber ein besseres Verständnis für Indiens eigene Interessen und Prioritäten entwickeln und Gemeinsamkeiten entschlossener verfolgen — auch und gerade bei Themen, bei denen der Impuls von indischer Seite kommt. Außerdem gilt es, politische Absichtserklärungen konsequenter mit inhaltlicher Detailarbeit zu unterfüttern, um ganz praktische Hemmnisse für effektive Zusammenarbeit abzubauen. Für beide Herausforderungen ist der Bereich Technologie- und Digitalpolitik ein Paradebeispiel.

Sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus politischen Erwägungen gilt Indien zu Recht als Partner der Stunde. Zum einen sieht die Bundesregierung in Indien ein großes Potenzial für die heimische Wirtschaft, indem sie sich um indische Fachkräfte bemüht und eine Intensivierung des bilateralen Handels anstrebt. Angesichts immer größerer Bedenken im Umgang mit China ist eine engere Vernetzung mit Indien als seit Jahren am schnellsten wachsenden G20-Staat für das Exportland Deutschland wirtschaftlich geradezu überlebenswichtig. 

Auch geopolitisch wird das mit 1,4 Milliarden Menschen bevölkerungsreichste Land der Erde immer wichtiger: Einerseits geriert Indien sich als Anführer eines aufstrebenden Globalen Südens” und pflegt in der BRICS+-Gruppe den Austausch mit Russland und China. Andererseits betont man die eigene Identität als demokratischer Staat und hat die Beziehungen mit den Vereinigten Staaten zur zentralen strategischen Partnerschaft ausgebaut. 

In mehr als zwei Jahrzehnten erklärter deutsch-indischer strategischer Partnerschaft” wurden mögliche Fortschritte indes bisher zu oft ausgebremst. Nicht selten lag dies an einem Mangel an Verständnis und Aufgeschlossenheit für Indiens eigene Prioritäten sowie an herausfordernden praktischen Rahmenbedingungen, gerade durch unterschiedliche Gesetzeslagen. Um mit einem Partner, dessen Außenpolitik in hohem Maße von Pragmatismus und Realpolitik geprägt ist, ernsthafter ins Gespräch zu kommen, müssen diese Schwachstellen dringend behoben werden.

Deutschland könnte von Indiens digitaler Transformation lernen

Exemplarisch hierfür steht der Bereich Technologie- und Digitalpolitik. Indien ist äußerst bemüht, sich in diesem Feld als globaler Agenda-Setter zu positionieren. Gut zu beobachten ist dies unter anderem bei den alljährlichen Global Technology Summits” von Carnegie India sowie der 2CyFy”-Konferenz der Observer Research Foundation. In Kooperation mit dem indischen Außenministerium laden die beiden Thinktanks regelmäßig Gäste aus aller Welt ein, um Indiens technologische Innovationen zu vermarkten. Ein Kernthema war dabei zuletzt vor allem Digital Public Infrastructure”, also öffentlich bereitgestellte Basiskomponenten wie digitale Ausweismöglichkeiten und Bezahldienste. Indien sieht diese zum einen als Schlüssel für die eigene wirtschaftliche Entwicklung.

In Kombination mit KI-gestützter Spracherkennung und Übersetzung sollen sie dem bevölkerungsreichsten Land der Welt entscheidend dabei helfen, hunderte Millionen von Menschen in formelle und produktivere Beschäftigung zu hieven. Zum anderen setzt es große Hoffnungen in eine möglichst enge Übernahme der eigenen Technologiearchitektur durch andere Länder — auch und gerade als Behauptung gegen Angebote aus China, das nicht nur in Asien umtriebig in digitale Infrastruktur investiert und damit auch sein fundamental auf staatliche Kontrolle des Individuums ausgerichtetes Modell versucht zu verankern. Und nicht zuletzt will Indien natürlich auch Absatzmärkte und Innovations-Partner für seine Digitalindustrie finden.

Eigentlich sollten für Deutschland die Gemeinsamkeiten mit Indien bei diesem Thema auf der Hand liegen. Erstens könnte die Bundesrepublik angesichts der vergleichsweise im Schneckentempo voranschreitenden Digitalisierung im eigenen Land ganz konkret von indischer Expertise und Erfahrungen profitieren – ein Gedanke, der bei Besuchen im Global Süden” gerne pflichtschuldig betont, aber selten ernsthaft verfolgt wird. Zwar verweist das neue Grundsatzdokument auf Indiens Vorreiterrolle bei digitaler öffentlicher Infrastruktur, und staunte Digitalminister Volker Wissing bei einem Besuch letztes Jahr vor laufenden Kameras über das digitale Bezahlsystem UPI (Unified Payments Interface). Konkrete Schritte folgten aber bisher nicht. 

Weitere Gemeinsamkeit: Drang zum Export

Zweitens passt auch der indische Drang zum Export der eigenen Lösungen grundsätzlich gut zu deutschen Interessen. Eine gewisse Nüchternheit bezüglich der kommerziellen Motive und der bisherigen tatsächlichen Umsetzung etwa des mitunter allzu laut beworbenen digitalen Ausweissystems Aadhaar, das deutschen Erwartungen in puncto IT-Sicherheit und Datenschutz sicherlich nicht auf Anhieb umfassend gerecht wurde, ist verständlich. Dennoch treten Schlüsselakteure im indischen Ökosystem glaubhaft für einen Ansatz ein, der Aspekte wie die individuelle Kontrolle über die eigenen Daten in den Vordergrund stellt. Dieser liegt deutlich näher an europäischen Konzepten als das chinesische Modell, und übrigens auch als der Überwachungskapitalismus” amerikanischer Technologiegiganten. 

Sowohl normativ als auch sicherheitspolitisch sollte es für Deutschland ein wichtiges Ziel sein, dass sich solche Prinzipien auch weltweit möglichst weitreichend durchsetzen. Schon heute investiert Deutschland aus gutem Grund etwa über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) erhebliche Ressourcen in die Beratung entwicklungspolitischer Partnerländer bei Digitalisierungsthemen. Eine deutlich engere Zusammenarbeit mit Indien gegenüber Drittstaaten könnte hier Kräfte bündeln und helfen, die Entwicklung der globalen Digitalinfrastruktur in eine positive Richtung zu lenken. 

Auch über die digitale öffentliche Infrastruktur hinaus teilen Deutschland und Indien in der Technologie- und Digitalpolitik eine Reihe grundsätzlicher Ziele, etwa hinsichtlich der Wahrung einer Form von digitaler Souveränität oder der Resilienz globaler Lieferketten bei gleichzeitiger Einhegung der militärischen Modernisierung Chinas. Eine entschlossenere Unterstützung sinnvoller indischer Initiativen – auch und gerade, wenn diese aus deutscher Sicht bisher nicht ohnehin ganz oben auf der Agenda stehen – ist damit nicht nur ein freundliches Signal in Hoffnung auf ein quid pro quo in anderen Politikbereichen, sondern pragmatische Interessenpolitik.

Einheitliche Rahmenbedingungen beim Datenschutz schaffen

Neben größerer politischer Aufgeschlossenheit für indische Interessen bedarf es dabei freilich auch handfester Investitionen in praktische Rahmenbedingungen. Im Bereich öffentliche digitale Infrastruktur besteht ein wichtiges Hindernis beispielsweise bisher darin, dass Indien kein Datenschutzgesetz implementiert hat und auch kein hinreichend tiefer Fachdialog zwischen indischen und deutschen Juristen besteht, um Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit indischer Ansätze mit europäischer Datenschutzgesetzgebung auszuräumen. Ähnliche Fragen bestehen mit Blick auf die bilaterale Cybersicherheits-Kooperation oder zu transnationalen Datenströmen.

Dass das Grundsatzpapier der Bundesregierung eine Roadmap für Innovation und Technologiekooperation” in Aussicht stellt, ist deshalb vielversprechend. Die Konkretisierung sollte nun durch eine Gruppe verschiedener Akteure erfolgen, die neben der Wissenschafts- und privatwirtschaftlichen Perspektive vor allem auch Rechtsexpert:innen beinhalten sollte. Zudem sollten hochrangige politische Austauschformate häufiger durch substanzielle Dialoge auf Arbeitsebene ergänzt werden, um den Rechtsrahmen für handels- und entwicklungspolitische Initiativen im Digitalbereich von vornherein mitzudenken und grundlegende Bedingungen der Zusammenarbeit zu klären.

Bei allen Herausforderungen tut die Bundesregierung gut daran, ihren außenpolitischen Fokus auf Indien” zu richten. Eine engere Zusammenarbeit in der Technologie- und Digitalpolitik – einem Feld, in dem scheinbar praktische Fragen fundamentale Auswirkungen auf die Konturen der sich verändernden Weltordnung haben – bietet große Chancen, die Partnerschaft tatsächlich auf eine neue Ebene zu heben. 


This commentary war originally published by n‑tv.de on October 232024.