Commentary

Verteidigungskampf der Ukraine: Was heißt Sieg?

Benner Verteidigungskampf 2024
A view of Lyadsky Gate in Kyiv's Independence Square.  | Photo: Unsplash/Roman Synkevych
16 Feb 2024, 
published in
Tagesspiegel

Letzte Woche antwortete Generalmajor Christian Freuding, Leiter des Lagezentrums Ukraine sowie des Planungs- und Führungsstabs des Bundesministers der Verteidigung, auf die Frage nach dem Kriegsende: Er wird dann enden, wenn die Ukraine den Krieg gewonnen hat“. Der Bundeskanzler hat anders als Freuding und Verteidigungsminister Boris Pistorius dieses Bekenntnis zum Sieg der Ukraine bislang sehr konsequent vermieden. Olaf Scholz hat sich früh auf die Formel Russland darf nicht gewinnen und die Ukraine darf nicht verlieren“ festgelegt. Dies hat dem Kanzler viel Kritik eingebracht. Doch bei nüchterner Betrachtung könnte es sein, dass die Positionen des Kanzlers und vieler, die sich zum Sieg der Ukraine bekennen, gar nicht so weit auseinanderliegen.

Das liegt daran, dass sich zu ändern beginnt, was unter Sieg verstanden wird. Unter dem Eindruck der Erfolge der Ukraine im Jahr 2022, als das Land die Hälfte der von Russland nach dem 24. Februar 2022 besetzten Gebiete zurückerobern konnte, gaben viele territoriale Maximalziele für einen Sieg aus. Die Ukraine müsse das gesamte von Russland völkerrechtswidrig besetzte Territorium inklusive der Krim befreien, zumindest aber alle Gebiete, die Moskau nach dem Februar 2022 besetzt hat. Nach der weitgehend erfolglosen Offensive der ukrainischen Truppen im letzten Jahr mit massiven Verlusten auf beiden Seiten sowie angesichts der Probleme der Ukraine bei der Mobilisierung von Soldaten ist es heute sehr fraglich, ob diese Ziele realistisch sind in absehbarer Zukunft. Es wird immer klarer, dass es nicht klug ist, den Erfolg der Ukraine rein an territorialen Kontrolllinien zu messen. Vielmehr könnten drei Ziele im Vordergrund stehen: Bewahrung der Staatlichkeit und Selbstständigkeit, wirtschaftliche Tragfähigkeit sowie Abschreckung zukünftiger russischer Aggression. Nun könnte man einwenden, dass es nicht die Rolle neunmalkluger unbeteiligter Beobachter im sicheren Berlin sein sollte, den Ukrainerinnen vorzuschlagen, wie sie Erfolg im Kampf gegen Russland definieren sollen. Doch auch in der ukrainischen Diskussion könnte sich etwas in diese Richtung bewegen, wie ein Interview mit Andrij Melnyk zeigt, dem ehemaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland, der sein Land jetzt in Brasilien vertritt. Anfang des Monats sagte Melnyk: Niemand in der Ukraine will diesen Krieg bis zum letzten Soldaten führen. Uns geht es darum, unsere Staatlichkeit zu bewahren. Das ist das A und O“. 

Das hört sich sehr danach an, was der Bundeskanzler im Mai 2022 formulierte: Unser Ziel muss sein, dass die Ukraine ihre Souveränität, ihre Freiheit und ihren Wunsch, in einem demokratischen Land zu leben, verteidigen kann“. Diese unabhängige Staatlichkeit muss, zweitens, wirtschaftlich tragfähig sein. Dazu braucht die Ukraine unter anderem eine viel besser ausgestattet Flugabwehr. Nur wenn russische Angriffe zuverlässig abgewehrt werden können, werden Investoren Vertrauen haben. Und drittens muss sichergestellt werden, dass Russland nach einem möglichen Ende der Kampfhandlungen von weiteren Angriffen abgeschreckt wird. 

Die Erfüllung dieser drei Ziele wäre ein Sieg der Ukraine auch ohne die unmittelbare Rückeroberung aller von Russland völkerrechtswidrig besetzten Gebiete. Natürlich wäre eine unmittelbare Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine wünschenswert. Doch zur harten Wirklichkeit für die Ukraine gehört, dass sie in letzter Konsequenz allein gegen eine nukleare Großmacht kämpft. Alle Unterstützer haben ausgeschlossen, selbst Soldaten in den Verteidigungskampf zu schicken, obwohl dies völkerrechtlich problemlos möglich wäre. Für die wichtigsten westlichen Länder ist die Vermeidung eines direkten Konfliktes zwischen NATO und Russland oberstes Kriegsziel. Aktuell schaffen es Europa und die USA nicht einmal, die Ukraine ausreichend mit Munition zu versorgen. Eine Bewahrung der Staatlichkeit und Selbstständigkeit ist unter diesen Bedingungen ein sehr großer Erfolg, gerade mit Blick auf die politische Lage in den USA.

Deutschland müsse sich darauf einstellen, noch mehr leisten zu müssen, wenn andere schwächeln”, sagte Bundeskanzler Scholz im letzten Dezember. Jetzt ist auch die Opposition gefragt, dafür die langfristige Unterstützung in der Bevölkerung sicherzustellen. 47 Prozent der CDU/CSU-Anhänger fordern laut einer ARD-Umfrage vom Dezember Kürzungen bei der Militärhilfe für die Ukraine als Teil von Sparmaßnahmen. CDU/​CSU und FDP müssen endlich erkennen, dass die Schuldenbremse in der jetzigen Form und die Ablehnung von Steuererhöhungen für Vermögende ein eklatantes Sicherheitsrisiko für Deutschland und die Ukraine darstellen. Es wird höchste Zeit, dass CDU/​CSU und FDP ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht werden und gemeinsam mit SPD und Grünen eine fiskalpolitische Basis erarbeiten, damit Deutschland seine Sicherheit gewährleisten kann in einer Welt mächtiger Feinde, in der auf die USA nicht mehr Verlass ist. 


This commentary was originally published by Tagesspiegel Online on February 162024.