Interview

„Wir haben keine Exit-Strategie anzubieten“

Rotmann 2022 keine Exit Strategie anzubieten
Source: Folco Masi / Unsplash
03 Mar 2022, 
published in
ntv.tv

Ein paar Tage lang hat sich der Westen über die tapferen Ukrainer gefreut, die sich den Panzern in den Weg stellen. Seit heute Nacht ist Mariupol ohne Strom und Trinkwasser, Tschernihiw im Norden meldete am Nachmittag Angriffe auf zwei Schulen und Wohnblocks. Beginnt der Krieg jetzt, richtig schrecklich zu werden, und wir können nur zuschauen?

Alle militärischen Analysen, die ich kenne, sind sich bei allen Unterschieden im Wesentlichen einig: Dieser Krieg wird noch sehr blutig. Denn die Szenarien, die das nicht erfordern würden, kommen derzeit kaum infrage: Dass Putin morgen früh aufwacht und denkt, was für eine blöde Idee”, und von seiner Palme wieder runter steigt, ist extrem unwahrscheinlich. Dass es schon jetzt eine Form von erfolgreicher Palastrevolution in Moskau geben könnte, ist auch absurd. Alles weitere bedeutet Krieg, und zwar einen Krieg, der sich immer stärker gegen die Zivilbevölkerung richten wird.

In den ersten Tagen haben sich die russischen Truppen noch zurückgehalten.

Anders als ab 2015 in Syrien oder 2008 in Georgien, ja. Aber je weniger sie damit erreichen, und je mehr sie merken, dass die ukrainische Bevölkerung nicht mit wehenden Fahnen überläuft, desto stärker wird der Druck werden, dass man auch Ergebnisse produzieren muss und dafür auch zivile Opfer in Kauf nimmt. Und zwar in erheblichem Maß. Und das ist der rein militärische Teil, ganz zu schweigen von der Frage, was die sogenannte Entnazifizierungskampagne” praktisch heißen wird.

Gibt es ein Szenario, in dem Putin ohne Gesichtsverlust von der Palme wieder runtersteigen könnte?

Ohne Gesichtsverlust nicht. Aber es gibt natürlich die Möglichkeit, dass sich auch für Putin das Kosten-Nutzen-Kalkül dieses Krieges verändert und sich das Ganze für ihn und seine Machtposition als zu teuer erweist. Dann kann er ihn beenden und versuchen, die Verluste zu reduzieren.

Welche Möglichkeit hätte er denn, diesen Schritt der Bevölkerung noch irgendwie zu verkaufen?

Das kann man von außen nicht so genau sehen, aber Russland-Experten sagen, da wären Szenarien denkbar: Putin könnte, nachdem er alles personalisiert hat und sogar nochmal öffentlich in dieser Show” mit dem Nationalen Sicherheitsrat gezeigt hat, dass der Krieg absolut seine alleinige Entscheidung ist, diese Taktik auch wieder komplett umdrehen.

Und wie?

Er kreuzigt ein paar seiner Sicherheitschefs und sagt: Die waren’s”.

Würde nicht jeder in Russland wissen, dass das nicht stimmt?

Doch, klar. Aber wenn diese Lüge erstmal die offizielle Linie ist und er die Kehrtwende rechtzeitig einleitet — solange er genügend Macht hat, damit ihn der Großteil des Sicherheitsapparats und die Oligarchen stützen -, dann kann es funktionieren. Dann hat er eine Chance, dass diejenigen mit Einfluss in Russland diese große Lüge mittragen. Weil sie einen Vorteil darin sehen, die Stabilität unter Putin aufrecht zu erhalten. Weil es erfolgversprechender erscheint, als ihn abzusägen.

Das wäre einfacher als sich irgendwann offen gegen ihn zu wenden.

Schließlich sitzt er derzeit noch fest im Sattel, genau. Und sie könnten sich nicht sicher sein, wer danach käme. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass Putin aus dem Krieg rauskäme, wenn er das so entscheiden sollte. Ich glaube, die größte Hürde ist nicht die praktische, sondern die ideologische.

Können Sie die skizzieren?

Er hat sich für den Krieg entschieden aus einem Mix von Gründen, die ideologische und machterhaltende Faktoren haben. Das Ziel war, sein Regime zu stabilisieren. Wenn aber Putin sagt, es ist eine Überlebensfrage für Russland, die Ukraine zu gewinnen, dann hat sich diese Überlebensfrage ja nicht einfach erledigt, nur weil es sich militärisch schwieriger darstellt, als er sich das vorgestellt hat. Das scheint mir die größere Hürde.

Für ihn selbst?

In seinen Kopf kann niemand hineinschauen, aber in der Öffentlichkeit ließe sich das immer als Teilerfolg” darstellen. Man sagt halt, wir haben jetzt die Ukraine entnazifiziert. Da sind jetzt x‑tausend Nazis tot. Ob die russische Bevölkerung das glaubt, wäre egal. In den Familien anders darüber reden, bei der Arbeit Witze über Putin reißen, das machen die Leute jetzt auch schon. Das ist in jedem repressiven System so, das wäre für das Regime nicht akut gefährlich. Auf Dauer würde es seine Machtposition schwächen, aber das ist ohnehin der Fall.

Putin kann gar nicht gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen?

Nein. Auch wenn er den Krieg gewinnt” und in Kiew eine Marionetten-Regierung einsetzt, wird er seine Herrschaft damit nicht dauerhaft stärken. Etwa wenn sich in der Ukraine eine Aufstandsbewegung formiert, Putin sich also eine Art Guerilla dort einhandelt: Das politische Scheitern könnte er zwar versuchen der Marionetten-Regierung in die Schuhe zu schieben, aber es wäre doch allen in Russland klar, dass die Propaganda nicht stimmen kann. Davon abgesehen werden aber allein schon militärischen Verluste – die jungen russischen Soldaten, die gefangengenommen, verwundet, getötet werden – einen erheblichen politischen Preis für Putin kosten.

Kann der Westen Putin einen Weg ebnen, um von seiner Palme wieder runterzusteigen?

Die einzige Idee, die im Westen auf dem Tisch liegt, wenn ich nichts übersehen habe, ist diese: Man bietet Putin an, dass die Ukraine neutral wird, die sogenannte Finnlandisierung” — Finnland ist ja auch kein NATO-Mitglied. Diese Idee halte ich allerdings für Quatsch. Aus zwei Gründen: Zum einen genügt dieses Angebot nicht mal annähernd Putins Forderungen. Der will keine Neutralität, sondern eine Eingliederung in ein russisches Imperium. Zum anderen wäre dieser Schritt für die Ukraine in keiner Weise akzeptabel — heute noch viel weniger als vor zwei Wochen. Das Vertrauen, dass Putin irgendeine Form von Neutralität respektieren würde, das ist schon seit der Krim-Annexion im Eimer. Und zwar komplett, denn Russland war eine der Garantiemächte des Budapest-Memorandums 1994.

Das war der Vertrag, in dem die Ukraine eingewilligt hat, auf ihre Atomwaffen zu verzichten.

Die Ukraine besaß damals das drittgrößte Atomwaffenarsenal weltweit, die Waffen waren noch aus Zeiten der Sowjetunion im Land. Das Memorandum besagte, dass die Ukraine ihre Nuklearwaffen an Russland übergibt. Im Gegenzug garantierte Russland, mit Großbritannien und den USA, die Respektierung der ukrainischen Souveränität als Staat und ihrer Grenzen.

Also exakt das, was Putin jetzt abschaffen will.

Und schon seit 2014 mit Füßen getreten hat. Darum sehe ich überhaupt keinen Weg, wie ein solcher Vorschlag — Neutralität — von der Ukraine akzeptiert werden könnte, außer, die Ukraine entscheidet sich zur Kapitulation. Das kann natürlich immer sein. Aber als Deutschland haben wir nicht mitzureden in der Frage, wann die Ukraine an den Punkt kommt, an dem der Blutzoll zu hoch ist. Wenn ausgerechnet aus Berlin solche Vorschläge lanciert werden, ist das meist wohlmeinend, aber politisch extrem naiv. Vor allem, wenn man sich nach mindestens acht Jahren der Verblendung bezüglich Putin und dem Kreml mit einem Vorschlag äußert, der nur als Druck auf Selenskyj verstanden werden kann.

Der Westen kann demnach nichts zu einer Friedenslösung beitragen?

Das ist Teil des Erwachsenwerdens, das wir jetzt durchmachen, vor allem als Deutsche. Wir wollen immer eine politische Lösung in der Hosentasche haben. Selbst wenn die Konfliktparteien sie nicht akzeptieren, hilft es immerhin, unser eigenes Gewissen zu beruhigen. Die Realität ist hier aber leider so, dass ein Land mit enormer Übermacht entschieden hat, beim Nachbarn einzumarschieren. Wir müssen respektieren, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer zusammen mit ihrer demokratisch gewählten Führung Entscheidungen treffen. Die sind nicht trivial und schwarz-weiß auf die absolute Minimierung der Gewalt ausgerichtet. Die schnellste Lösung, um Gewalt zu verhindern, scheint die sofortige Kapitulation. Das ist das Problem mit den Rufen nach einer Deeskalation: Man spielt damit dem gewaltbereiteren und mächtigeren Akteur immer in die Hände. Zum Thema Exit-Strategie haben wir im Moment leider nichts anzubieten.


This interview was originally published by ntv​.tv on March 032022