Der Weg zu neuen Strategien
Es ist selten, dass die Rede eines amtierenden Außenministers solch hohe Wellen schlägt. Die Kritiker von Sigmar Gabriels „Grundsatzrede“ beim Körber-Forum Anfang Dezember 2017 in Berlin fahren schweres Geschütz auf. Von „giftigen Narrativen“ ist die Rede. Mit dem „Abgesang auf die USA“ wende sich Gabriel autoritären Staaten zu und vergesse die Verteidigung universeller Werte. Das ist eine maximal giftige Lesart einer Rede, die als bewusste Provokation gegen allzu bequemes Denken in einer „unbequemeren Welt“ konzipiert war. Gabriel dürfte der Aufschrei indes freuen, melden sich doch genau die von ihm ins Auge gefassten Zielgruppen indigniert zu Wort.
Zum einen diejenigen „Transatlantiker“, welche das gegenwärtige Sicherheitsarrangement mit den USA für alternativlos halten. Die Autoren des „Transatlantischen Manifests“ etwa sehen Donald Trump als „Präsidenten sui generis, der sich in keine der etablierten Traditionslinien amerikanischer Politik einordnet“. Ergo: nach der temporären Erschütterung durch Trump wird die Sicherheitspartnerschaft mit dem nächsten Präsidenten weitergehen wie bisher. Ja, Europa solle ein wenig mehr für die eigene Sicherheit ausgeben im Sinne einer besseren transatlantischen Lastenteilung, aber ansonsten stünden die Zeichen auf transatlantischer Normalität.
Das wäre in der Tat praktisch, denn die bedingungslose Sicherheitsgarantie durch die USA ist das bestmögliche aller Arrangements für Europa. Sie ermöglicht niedrige Verteidigungsausgaben, eine Konzentration auf Exporte sowie die schöneren Seiten der Diplomatie. Dass die USA über Europa die Hand halten, bändigt zudem die geopolitischen Fliehkräfte innerhalb der EU. Es wäre töricht von Seiten Deutschlands und Europas, sich von den USA abzuwenden in dem irrlichternden Glauben, ohne Washington ein besseres Europa und eine bessere Welt bauen zu können.
Bernd Ulrich etwa befand selbstgerecht, dass die USA „jedweden moralischen, militärischen und politischen Führungsanspruch verwirkt“ haben. Und mit Angela Merkel setze sich ein „kooperativer, vernunftbasierter, vernetzter Führungsstil in Europa“ durch, quasi als Gegenentwurf zu den verrottenden USA. Um solche Traumtänzerei geht es Gabriel nicht. Ihn treibt um, dass es Washington sein könnte, das das bestehende Arrangement mit Europa aufkündigt.
Gabriel befand schon Anfang des Jahres: „Letztlich ist die Sicherheitsgarantie der USA für Europa ein Nachkriegsmodell des Zweiten Weltkriegs, das jetzt mit etwas Verspätung ausläuft.“ Wie lange die Restlaufzeit noch ist, vermag niemand zu sagen. Aber dass es ein Risiko gibt, dass Europa in absehbarer Zeit ohne die gewohnten Sicherheitsgarantien der USA dasteht, ist schwerlich zu leugnen. Gabriel sagt deshalb: „Es geht um ein Risiko, das uns zum Handeln zwingt.“
Nun muss sich Gabriel vorwerfen lassen, dass er die Entwicklungen der Welt als höchst kontingent, den Weg der USA weg von ihrer bisherigen globalen Rolle hingegen schon fast deterministisch gezeichnet hat. Das ist ein logischer Bruch in der Analyse. Gabriel mag dies in Kauf genommen haben, um den deutschen Transatlantikern deutlich zu machen, dass ein alleiniges Setzen auf ein „Weiter so“ gefährlich ist. Das Festhalten am normativ Wünschenswerten darf nicht zu einer analytischen Blindheit beim Erkennen anderer möglicher Entwicklungswege führen.
Für Gabriel ist klar: „Die USA werden unser wichtigster globaler Partner bleiben. Wir werden diese Partnerschaft auch in Zukunft brauchen und pflegen“. Er fügt hinzu: „Aber diese Partnerschaft wird allein nicht ausreichen, um unsere Interessen zu wahren in einer Welt, die von neuen politischen und wirtschaftlichen Machtpolen und konkurrierenden Gesellschaftsmodellen geprägt sein wird.“
Daraus leitet Gabriel den Aufruf an Deutschland, in europäische Handlungsfähigkeit zu investieren, ab. Deutschland und Europa würden „viel mehr tun und wagen müssen als bisher“. Entscheidend ist, wie der Außenminister hier argumentiert. Anders als die meisten deutschen Politiker verlässt er sich nicht auf einen tugendgetränkten Verantwortungsdiskurs. Die meisten Reden zu einer stärkeren Rolle Deutschlands in Europa und der Welt quellen über vor „Verantwortung“. Dieses Zauberwort hat den Vorteil, dass ein jeder seine besten Absichten und moralischen Wunschvorstellungen in das Mehr an deutscher Verantwortung hineininterpretieren kann. Da stellt sich beim Publikum auch bei unwirtlicher weltpolitischer Großwetterlage ein fast wohliges Gefühl ein.
Gabriel verzichtet bewusst auf den Weichspüler Verantwortung. Stattdessen kritisiert er, Herfried Münkler zitierend, diejenigen, deren Blick bei der Lageanalyse stets zum „Horizont moralischer Normen und Imperative“ schweife. Gefordert sei stattdessen nüchternes „politisch-strategisches Denken“. Hier attestiert Gabriel China, das einzige Land zu sein, das „überhaupt eine langfristige geostrategische Idee hat.“ Er beklagt, dass Deutschland „keine vergleichbare eigene Strategie“ hat.
Daraus eine Anlehnung an autoritäre Mächte und einen Abgesang an die Verteidigung universeller Werte abzulesen, ist absurd. Gabriel selbst spricht davon, dass rund um den Globus sehr sorgfältig analysiert werde, „wie stark und entschlossen der Westen in der Verteidigung seiner Werte und Interessen ist“.
Gabriel weiß, dass es in Deutschland nicht trivial ist, die eigene geopolitische Orientierung zu definieren. Schließlich sei die „Zeit, in der Deutschland sich strategische Ideen hat einfallen lassen, recht ungemütlich“ für andere gewesen. Doch es ist nicht nur der Haushofersche Ballast, den „Geopolitik“ in Deutschland unweigerlich mit sich trägt, der „politisch-strategischem Denken“ im Wege steht. In Deutschland gibt es heute kaum Kapazität im Bereich „strategic studies“.
Es wird nicht reichen, in schöner Regelmäßigkeit das Berliner Universalorakel Herfried Münkler zu befragen, um zu einer politisch-strategischen Orientierung zu kommen. Die Regierung und auch Stiftungen werden in „strategic studies“-Kapazität an Think Tanks und Universitäten investieren müssen. Und diese werden auch die eigene Bevölkerung bei den notwendigen ungemütlichen Debatten viel stärker als bisher einbinden müssen und gleichzeitig viel stärker reflektieren, wie deutsches Handeln im Ausland gesehen wird.
Gabriels notwendige Provokation kann den Weg zu einer besseren außen- und sicherheitspolitischen Diskussion in Deutschland weisen. Dazu sind neben Investitionen in die Strategiefähigkeit auch konkrete Schritte in einzelnen Politikfeldern nötig. Oft werden es Schritte sein, die ungemütlich sind, etwa die Frage, wie viel Offenheit sich Europa gegenüber einer autoritären Macht wie China wirtschaftlich wie politisch leisten kann.
Hier ist Gabriel selbst gefordert. So sehr er sich als effektiver Werber für einen stärkeren deutschen Beitrag für Europa gezeigt, so sehr hat er im Wahlkampf auf einseitige Polemik gegenüber dem Zwei-Prozent-Ziel für Verteidigungsausgaben innerhalb der NATO gesetzt. Diese Polemik ist dann billig, wenn man weiter auf die unbedingte Sicherheitsgarantie der Amerikaner setzt. Doch wenn man, wie Gabriel, diese aus gutem Grund anzweifelt, dann sollte man sich schleunigst Gedanken für die eigenen deutschen und europäischen Fähigkeiten machen, zivil-diplomatisch wie militärisch.
Dies gilt auch für die Frage nach den Atomwaffen. In keinem anderen Feld sind die „Friedensmacht Deutschland“-Mythen unter dem nuklearen Schutzschild der USA so gut gediehen. SPD-Kandidat Martin Schulz hatte sich im Wahlkampf dafür eingesetzt, dass „in Deutschland gelagerte Atomwaffen aus unserem Lande abgezogen werden“. Regierungssprecher Seibert sendete Anfang Dezember via Twitter wohlfeile Glückwünsche an die Friedensnobelpreisträger der Aktivistengruppe ICAN, die ein globales Verbot von Atomwaffen betreibt: „Auch wenn es noch ein langer Weg ist: Bundesregierung teilt Ziel Global Zero“. Was Seibert verschweigt: Deutschland hat aus gutem Grund gegen die UN-Resolution von ICAN zum Verbot von Atomwaffen gestimmt.
Hätte Gabriel sich beim Wort genommen, was das mögliche Ende der US-Sicherheitsgarantie für Europa betrifft, so hätte er in der Körber-Rede die Frage ansprechen müssen, wie sich Deutschland ohne den atomaren Schutzschirm der USA positionieren würde. Stattdessen nahm er die Diskussion um den drohenden Zerfall des INF-Vertrags aus dem Jahre 1987 zum Verbot nuklearer Mittelstreckensysteme zum Anlass, in bekannter Manier vor der „Gefahr eines erneuten, nuklearen Wettrüstens mitten in Europa“zu warnen, einem „Kalten Krieg 2.0“, bei dem Deutschland der „Leidtragende” wäre. Deshalb müsse „unser Land gerade jetzt erneut für Rüstungskontrolle und Abrüstung seine Stimme erheben“.
Damit versteift sich Gabriel in der Narrative von einem Deutschland als Spielball der Nuklearmächte USA und Russland, das sich schon immer einseitig für Abrüstung eingesetzt hat. Das klingt so, als wäre im Kalten Krieg in Deutschland durchgängig die Friedensbewegung an der Macht gewesen und als wäre es nicht eine von Sozialdemokraten geführte bundesrepublikanische Regierung gewesen, die Ende der 70er Jahre auf die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa gedrungen hat.
Wenig in Gabriels Äußerungen trägt dazu bei, heute eine ehrliche Debatte über die deutsche Position zu Nuklearwaffen zu führen. Man kann sich, wie es der neue konservative österreichische Kanzler Sebastian Kurz gemacht hat, ganz auf die Seite von ICAN schlagen. Dies geht als neutrales und kleines Land leicht von der Hand. Doch auch der deutsche Außenminister muss sich eine Antwort auf die deutsche und europäische Nuklearfrage einfallen lassen. Darin werden Rüstungskontrolle und Abrüstung richtigerweise eine zentrale Rolle spielen, ohne dass Deutschland unbequemen Fragen nach seiner nuklearpolitischen Positionierung aus dem Wege gehen kann. Somit wird die Atomwaffendebatte, die 2018 Deutschland unweigerlich bevorzustehen scheint, zeigen, ob es Gabriel mit dem „politisch-strategischen Denken“ wirklich ernst ist.
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This commentary originally appeared in Tagesspiegel Causa on December 22, 2017.