Jamaika geht anders
Es gibt Themen in den laufenden Sondierungsverhandlungen, da braucht es eine kleine Revolution. Die Reduzierung von Fluchtursachen ist so ein Thema. 65 Millionen Flüchtlinge weltweit: Da geht es um weniger Krieg und Gewalt, um mehr wirtschaftliche Entwicklung, um Schutz vor den Folgen der Klimakrise, um Bildung für alle, um demokratische Mitbestimmung und Menschenrechte im eigenen Land.
Eine Herkulesaufgabe? Ja! Aber wir haben auch enormes Wissen und zahlreiche Instrumente, um hier Fortschritte zu machen. Was fehlt, ist Koordination. Und zwar mehr als nur die zwischen Außen- und Entwicklungsministerium.
In Mali zum Beispiel steckte in den vergangenen Jahren ein Ministerium Millionen in Entwicklungsprojekte, das andere entsendete Soldaten in EU-und UN-Missionen und das dritte sollte eigentlich die diplomatisch-politische Einbettung sicherstellen; tatsächlich informierte man sich höchstens gegenseitig über einzelne Aktivitäten. Dabei kam weder eine überzeugende noch eine gemeinsame politische Strategie heraus. Zeit und Energie gingen vorrangig in den Konkurrenzkampf zwischen den Häusern.
Noch absurder ist die Situation, wenn man den Blick auf weitere Politikbereiche weitet: Von Deutschland unterstützte EU-Agrarsubventionen sorgen dafür, dass billiges Fleisch und Getreide aus Europa afrikanische Märkte überschwemmen. Gleichzeitig versucht unsere Entwicklungszusammenarbeit, Menschen einen Arbeitsplatz in der Agrarindustrie vor Ort zu vermitteln. Oder wir exportieren Waffen nach Saudi-Arabien, das einen Krieg im Jemen führt. Ein Land, in dem das Auswärtige Amt jahrelang Mediationsinitiativen aufgebaut und unterstützt hat.
Solche Widersprüche und Zielkonflikte führen wir uns viel zu selten vor Augen. Wie aber soll sich Deutschland mit anderen Ländern abstimmen, wenn es schon innerhalb der eigenen Regierung nicht gelingt, gemeinsam zu handeln? Wie soll das besser werden, wenn vielleicht vier statt drei Parteien koalieren?
Beim Blick in die Wahlprogramme findet sich hierzu erstaunlich viel Konsens: CDU/CSU fordern eine „zentrale Koordinierung innerhalb der Bundesregierung und im Parlament“, die Grünen „strategische(s) und kohärente(s) Handeln in allen Ressorts und Politikbereichen“ und die FDP „einen kohärenten Ansatz innerhalb der Bundesregierung, insbesondere zwischen Wirtschafts‑, Außen- und Entwicklungspolitik“.
So ähnlich stand das auch in Strategiedokumenten der bisherigen Bundesregierung. Nur darauf, wie das genau gehen solle, konnte man sich nicht einigen. Macht- und Zuständigkeitsfragen haben Tausende Arbeitstage hochrangiger Beamter verschlungen. Und doch wurden immer nur neue Pattsituationen und Formelkompromisse produziert.
Was aber wäre die Lösung? Vier Schritte: Erstens, für den Arbeitsalltag, die Aufwertung der bereits bestehenden Koordinierungsgruppe der Abteilungsleiter zu einem echten Entscheidungsgremium, das gemeinsame politische Strategien für Krisenländer entwickeln kann.
Zweitens ein ähnlich dem Ethikrat aufgebauter Rat für Grundlagenfragen, der Zielkonflikte aufdeckt und sie in die Gesellschaft trägt; der Leitplanken für tagespolitische Entscheidungen setzen kann – unter Einbindung von NGOs, Experten und Initiativen aus den betroffenen Regionen.
Drittens ein Sonderausschuss im Bundestag, der den vernetzten Ansatz parlamentarisch begleitet, denn auch hier spiegeln die Ausschüsse bisher weitestgehend die Ressorts wider.
Viertens, und damit wird das Projekt stehen oder fallen, ein echter Kulturwandel: Ministerinnen und Minister, die eine bessere Koordinierung vorleben. Wie wäre es zum Beispiel, wenn ein neuer Außenminister nicht nur gemeinsame Reisen mit seinem französischem Kollegen macht, sondern auch öfter mal mit seinen Kollegen und Kolleginnen aus Innen‑, Umwelt‑, Wirtschafts‑, Entwicklungs- oder Verteidigungsministerium?
Hört sich technokratisch an und wenig sexy? Ist aber bitter nötig! In der kommenden Legislaturperiode ist die Reduzierung von Fluchtursachen zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ein Thema, das über Erfolg oder Misserfolg einer Regierung entscheidet. Eine gelingende Strategie ist nicht mehr optional, sondern absolut notwendig, für alle vier Partner. Die Herausforderungen sind groß, schon wenn alle an einem Strang ziehen. Wenn jeder für sich alleine kämpft, werden alle scheitern.
Also Jamaika: Traut Euch!
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The commentary was originally published by Frankfurter Rundschau on October 29, 2017.