Study

Stabilisierung: Begriffe, Strukturen und Praxis im Vergleich

Stabilization Rotmann 2013
01 Mar 2014, 
published in
Auswärtiges Amt

Zusammenfassung

Sogenannte fragile Staaten gelten international als eine der wichtigsten Herausforderungen zur Bewahrung und Förderung von Frieden und Sicherheit. Stabilisierung, ob sehr breit verstanden als Fragilitätsabbau oder enger als Bewältigung akuter, auch dauerhafter Extremzustände von Fragilität (Krisen), bleibt also eine wichtige Aufgabe globaler Sicherheitsvorsorge und Friedensförderung. Die vorliegende Studie analysiert einschlägige internationale Erfahrungen (v.a. in Form von vier Fallstudien über Großbritannien, Kanada, den USA und die Niederlande) und entwickelt Handlungsoptionen für Deutschland. 

Grundbegriffe: Fragilität, Stabilität und Stabilisierung

In der Verwendung der Grundbegriffe bestehen Unterschiede vor allem im Verständnis von Stabilität. Stabilisierung wird dagegen übereinstimmend auf Situationen extremer Fragilität bzw. akute Krisen bezogen, d.h. Stabilisierung meint die akute Prävention und Bewältigung eines Ausnahmezustandes extremer politischer Volatilität und kriegerischer Gewalt, der auch über viele Jahre andauern und akut bleiben kann (etwa in Afghanistan oder der DR Kongo). 

In der Krise versagen die politischen Mechanismen der Machtbalance und Aushandlung strittiger Fragen zwischen konkurrierenden Akteuren. Die Rückführung der Krise auf das Niveau normaler“ Fragilität ist die Aufgabe von Stabilisierung. Dementsprechend beschreibt Stabilisierung nur einen Teilbereich des ressortgemeinsamen Engagements in fragilen Staaten: Vielerorts gibt es Fragilität, deren Bearbeitung mit Instrumenten wie Kapazitätsaufbau, Friedensförderung, Konfliktbearbeitung, Konflikt- und Krisenprävention etc. ressortgemeinsam erforderlich ist. Stabilisierung erfolgt – präventiv ebenso wie reaktiv – nur in Ausnahmefällen. Nimmt man die berechtigte Kritik in Wissenschaft und Zivilgesellschaft an Konzept und Praxis der Stabilisierung ernst, ist diese bescheidenere Definition von Stabilisierung der einzig gangbare Weg.

Das Missverständnis der Kurzfristigkeit: schnell handeln, aber dranbleiben!

Der Handlungsdruck der Krise ist im Regelfall (wenn auch nicht immer) real, im Sinne hoher Erwartungen vor Ort und erheblicher Eskalationsrisiken, verschärft durch Medien und Politik. Dieser Handlungsdruck erfordert einen schnellen Einstieg in ein sichtbares Engagement, verbunden mit sorgfältiger und bescheidener Kommunikation, insbesondere mit Blick auf die Erwartungen lokaler Bevölkerungen. Anders als der schnelle Start können schnelle (aber minderwertige) Ergebnisse allerdings auch mehr schaden als nutzen – hier gilt es im Einzelfall im Sinne des do no harm-Grundsatzes abzuwägen. Der Ruf nach dem kurzfristigen Start darf zudem nicht zu dem Fehlschluss führen, dass nur kurzfristige Maßnahmen oder Haushaltsmittel benötigt würden: das Gegenteil ist der Fall. Dauerkrisen bleiben über Jahre akut und erfordern eine Mischung kurz‑, mittel- und langfristiger Stabilisierungsinstrumente. 

Stabilisierung als Risikoinvestition

Jedes Stabilisierungsengagement muss als Risikoinvestition gelten. Das Risiko des Scheiterns ist hoch, auf der Ebene einzelner Maßnahmen oft höher als die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs. Dem entgegen steht das Risiko der Nicht-Intervention, der Eskalation eines Krieges bis hin zur jahre- und jahrzehntelangen (Selbst-)Zerstörung einer Gesellschaft. Dazwischen gilt es im Einzelfall abzuwägen. In manchen Fällen wird Stabilisierung stattfinden (müssen). Dafür muss die Vorbereitung und Durchführung von Stabilisierungsaktivitäten in erster Linie auf Bescheidenheit im Anspruch gründen. Wir wissen mehr darüber, was in bestimmten Situationen nicht funktioniert hat, als darüber, welche Aspekte eines Erfolges sich verallgemeinern lassen. Grundlegende Annahmen wurden von der Realität widerlegt: Entwicklung allein schafft auf der entscheidenden kurz- und mittelfristigen, kleinräumigen Ebene keine Sicherheit, während eine Verbesserung der Sicherheit für die Bevölkerung durchaus Gelegenheiten für sozioökonomische Entwicklung schafft. Stabilisierung ist deshalb vor allem ein Lernprozess. 

Der Ausnahmezustand im zwischenstaatlichen Verhältnis

Die Praxis der Stabilisierung impliziert die Suspendierung der üblichen Grenzen staatlicher Souveränität durch eine neue Qualität internationaler Eingriffe in die lokale politische Ordnung. Das geschieht oft durchaus im Konsens mit der betreffenden Regierung, die sich Vorteile von der internationalen Unterstützung verspricht. Der Umgang mit diesem Ausnahmezustand der zwischenstaatlichen Beziehung (und der Beziehung multilateraler Organisationen zu staatlichen und gesellschaftlichen Repräsentanten) ist Teil der Intervention. Dieser Umgang kann und muss flexibel kalibriert und mit den lokalen politischen Eliten ausgehandelt werden. Die vertrauten Prinzipien der Normalität dürfen dabei nicht zu Denkverboten führen.

Welche Anforderungen stellt Stabilisierung an die Bundesregierung?

Im Ausnahmezustand übernimmt die Bundesregierung mit dem Anspruch der Stabilisierung eine praktische politische Mitverantwortung für einen Staat. Über die Verdichtung aller Facetten des normalen Verhältnisses hinaus erfordert ein Stabilisierungsengagement einen Werkzeugkasten“ (toolkit) eigener, maßgeschneiderter Instrumente, von der Mitgestaltung und Beteiligung an internationalen zivil-militärischen Krisenmanagement- oder Friedenseinsätzen bis zu bilateralen Maßnahmen, die kurzfristig auf eine politische Dynamik wirken. Die stetige Weiterentwicklung dieser Instrumente auf allen Ebenen erfordert politische Aufmerksamkeit sowie eine effektive institutionelle Infrastruktur im ressortgemeinsamen Rahmen, und damit nicht zuletzt auch finanzielle und personelle Ressourcen: Stabilisierung ist teuer, um ein Vielfaches teurer als die Pflege normaler bilateraler Beziehungen. 

Konkrete Anforderungen bestehen insbesondere in der Deckung eines erheblichen Bedarfs an laufender politischer Analyse, besseren Fähigkeiten zur vorausschauenden und gemeinsamen Kontingenzplanung, bei der politischen Kommunikation, in der Weiterentwicklung von schnell wirksamen, verlässlichen Stabilisierungsmaßnahmen, beim flexiblen Einsatz von Personal und dessen besserer Vernetzung über Gruppen und Institutionen hinweg sowie bei der ständigen Weiterentwicklung aller Instrumente (u.a. durch bessere Methoden der Fortschrittskontrolle und Evaluierung). Zu diesen Themen sowie zu den grundlegenden Fragen von Definition, strategischer Steuerung/​Ressortkoordinierung und zu Anforderungen an geeignete Finanzmittel werden im letzten Kapitel Handlungsoptionen dargestellt.

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