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Kein Kinderspiel

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Child in Iraq playing jump rope.  | Photo: Flickr / EC/ECHO/Jamal Penjweny (CC BY-NC-ND 2.0)
19 Aug 2025, 
published in
Internationale Politik

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Wenn in Deutschland über Außen- und Sicherheitspolitik, über Konfliktprävention – Berlin ist der weltweit größte Geber – oder die Herausforderungen der Zeitwende diskutiert wird, fehlt in der Regel eine Gruppe: Kinder und Jugendliche. Sie sind möglicherweise der am stärksten unterschätzte Faktor in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Manipulieren und radikalisieren

Die durchschnittliche Person in Krisen- und Konfliktgebieten weltweit ist 17 Jahre oder jünger. In vielen instabilen Regionen machen Minderjährige die Mehrheit der Bevölkerung aus. Damit sind Kinder überproportional oft in Konflikte eingebunden und von ihren Auswirkungen betroffen. Zudem spielen Kinder inmitten von Gewalt und Chaos auch häufig besondere Rollen. Das haben diejenigen verstanden, deren Geschäftsmodell die soziale und politische Destabilisierung ist – autoritäre Machthaber wie bewaffnete Gruppen nutzen Minderjährige für ihre Zwecke aus. 

Wer den Strategien von Autokraten wie Wladimir Putin oder Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat etwas entgegensetzen will, muss seinen Blickwinkel auf Krieg und Konflikt erweitern und Minderjährige in seine Überlegungen einbeziehen.

Diktatoren und Terroristen nehmen Kinder wegen ihrer besonderen physischen und sozialen Eigenheiten ins Visier: Klein wie sie sind, werden sie im Alltag oft nicht als Bedrohung wahrgenommen und können sich unauffälliger bewegen – ideal für Sabotageakte oder die Informationsübertragung. Kinder sind leichter zu überwältigen als Erwachsene, leichter zu manipulieren, leichter zu radikalisieren. Kinder haben aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit einen herausgehobenen gesellschaftlichen Stellenwert. Für ihre Familien, Ethnien, politischen oder religiösen Gemeinschaften verkörpern sie die Zukunft, und genau das macht sie zur Zielscheibe. Gleichzeitig tragen Minderjährige in Konfliktgebieten aber auch zum Erhalt sozialer und wirtschaftlicher Strukturen bei, indem sie zum Beispiel Geschwister großziehen oder Geld verdienen. 

Perfides Kalkül

In Syrien haben die Sicherheitskräfte von Baschar al-Assad zwischen dem Beginn des Bürgerkriegs 2011 und dem Sturz seines Regimes im Herbst 2024 mindestens 5,000 Kinder inhaftiert. In vielen Fällen wurden die Kinder von Oppositionellen und Rebellengruppen gezielt aufgegriffen und unter Folter gezwungen, Informationen über ihre Familien oder die Opposition preiszugeben. 

Gefangene Kinder wurden zudem als Druckmittel eingesetzt, um Lösegeld einzutreiben oder Oppositionelle dazu zu bewegen, sich selbst zum Austausch zu stellen. Die Inhaftierung der Kinder von Oppositionellen hatte aus Sicht der Herrscher noch einen zusätzlichen strategischen Wert: viele Jugendliche wurden so aus dem Spiel genommen, weil sie sonst, so das perfide Kalkül, von den Rebellen hätten rekrutiert werden können. Die Inhaftierung von Minderjährigen endete häufig in ihrer Exekution – das Ausmaß der durchgeführten Todesstrafen bleibt unbekannt.

Die ukrainische Identität auslöschen

Auch in Russland hat man das nachrichtendienstliche Potenzial von Kindern und Jugendlichen als Mittel im Krieg gegen die Ukraine erkannt. Über scheinbar harmlose Spieleapps konnten ukrainische Kinder Punkte sammeln, wenn sie Fotos von ihrer Umgebung hochluden – inklusive ziviler und militärischer Infrastruktur. Solche geografischen Daten zu Krankenhäusern oder Militärstützpunkten sind für das russische Militär beispielsweise bei Luftangriffen nützlich.

Zudem hilft der Blick auf Russlands Kinder- und Jugendstrategie dabei, Putins Kriegsziele zu erkennen. Zunächst einmal attackiert das russische Militär Kinder gezielt, durch Angriffe auf Schulen oder durch die Bombardierung von Theatern wie in Mariupol im Jahr 2022 — und das, obwohl auf den Plätzen vor und hinter dem Theatergebäude in kyrillischen Buchstaben groß mit weißer Kreide das Wort Kinder“ geschrieben stand. 

Auch die drastisch gestiegene Zahl getöteter und verletzter Kinder im Jahr 2024 ist eine Konsequenz dieser Vorgehensweise. Putins Sicherheitskräfte haben zudem Tausende, nach Schätzungen der ukrainischen Regierung über 19,500, ukrainische Kinder nach Russland entführt, wo ihre Adoption“ durch russische Eltern mit Prämien von bis zu 1,000 US-Dollar belohnt wurde. Ein Element einer Strategie der ethnischen Säuberung, das schon die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg angewendet hatten und das seit 1948 durch die UN-Völkermordkonvention verboten ist.

Es ergibt sich das schlüssige Bild einer russischen Zielvorstellung, die ukrainische Identität auszulöschen. Im Kontext von Völkermorden ist Gewalt gegen Kinder besonders häufig – es ist, zynisch gesprochen, einer der einfachsten Wege, symbolisch und faktisch die Zukunft der Gruppe zu attackieren, die eliminiert werden soll. Während des Genozids in Ruanda rief die Hutu-Führung explizit zur Gewalt an Tutsi-Kindern und schwangeren Frauen auf. Es gibt Schätzungen, wonach Minderjährige die Mehrzahl der Opfer bildeten. Noch zehn Jahre nach Ende des Genozids spielten Kinder eine wichtige gesellschaftliche Rolle: 2004 wurden 42,000 Haushalte in Ruanda durch Minderjährige geführt.

Neue Generation von Taliban-Kämpfern

Dass Kinder in Konflikten von erheblicher ökonomischer Bedeutung sind, ist nachweisbar: in Gaza etwa ist derzeit ein Viertel der Haupterwerbstätigen in Haushalten minderjährig. Die finanziellen Nöte und alltäglichen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen werden von bewaffneten Gruppen instrumentalisiert, indem sie Kindern Geld oder Versorgung anbieten, wenn sie sich ihnen anschließen. Eine Strategie, die auch die Hisbollah im Libanon anwendet. In Gestalt von Pfadfindergruppen, Schulen und anderen Institutionen zur sozialen Absicherung bietet sie Ersatz für fehlende staatliche Angebote. So ermöglicht die Hisbollah Kindern Bildung, sozialen Anschluss, Sicherheit – aber auch Indoktrinierung und eine direkte Rekrutierungs-Pipeline in den bewaffneten Flügel der Organisation.

Ein genaueres Auge auf die Rekrutierung und Radikalisierung von Kindern hätte es im Zweifel auch ermöglicht, das strategische Scheitern des 20-jährigen Einsatzes in Afghanistan“ (Abschlussbericht der Enquete-Kommission) besser vorherzusehen. Der Großteil der heutigen Taliban-Anführer ist zwischen 24 und 36 Jahre alt, junge Männer, von denen die meisten das letzte Taliban-Regime 1996 bis 2001 höchstens als Kleinkinder miterlebt haben. 

Schon 2015 warnten Berichte, dass die Taliban in wachsendem Maße Kinder ab sechs Jahren in madrasas (Schulen für islamische Bildung) indoktrinierten und militärisch ausbildeten. Tausende junge Teenager wurden als reguläre Kämpfer eingesetzt, auch bei terroristischen Angriffen. So bauten die Taliban eine neue Generation an Kämpfern auf und legten Wurzeln in immer größeren Gebieten – schwer vorstellbar, dass dies nicht signifikant dazu beitrug, dass die Taliban so schnell die Kontrolle über das Land zurückgewinnen konnten. 

Auch der Islamische Staat (IS) setzte und setzt bewusst auf Kinder und Jugendliche und machte diese Strategie öffentlich: Selbst wenn eroberte Gebiete verlorengehen, soll der IS über Generationen weiterbestehen – weitergetragen in den Köpfen der cubs of the caliphate.“

Die Radikalisierung und Rekrutierung von Minderjährigen wurde zur Kernpriorität erklärt und mit entsprechenden Ressourcen unterfüttert. So übernahm der IS rund 1,350 Schulen, in denen über 100.000 Kinder systematisch radikalisiert wurden. In Propagandavideos gerierten sich Minderjährige oft als Kämpfer oder Unterstützer, der IS bespielte geschickt soziale Medien, um Kinder und Jugendliche anzusprechen. 

Diese Rechnung ist zumindest in Teilen aufgegangen: Armut, Ausgrenzung und fehlende Perspektiven machen Minderjährige auch weiter anfällig für die IS-Ideologie. So sprechen Expertinnen und Experten im Nordirak von einer tickenden Zeitbombe.“

Siehe, das Böse liegt so nah

Doch man muss gar nicht so weit schauen. Auch in westlichen Demokratien werden Minderjährige gezielt radikalisiert. Laut einem aktuellen FBI-Bericht steigt die Zahl der minderjährigen Extremist*innen jährlich. Im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts des Berliner Global Public Policy Instituts erklärten Extremismus-Expert*innen aus Norwegen, den Niederlanden, Australien, Spanien und Kanada die besondere Gefahr, die von der Online-Radikalisierung Jugendlicher ausgeht. 

Gerade die rechtsextreme Szene hat sich demnach weitgehend ins Internet verlagert, wo Minderjährige leicht greifbar und schlecht zu schützen sind – Identitäten können verschleiert werden und es bedarf keiner organisierten Gruppen, die identifiziert und zerschlagen werden könnten. Stärker noch als ideologische Überzeugungen steht derzeit die Gewaltverherrlichung im Mittelpunkt der Propaganda. Expert*innen aus Kanada bezeichnen Jugendradikalisierung in Verbindung mit Rechtsextremismus als die am stärksten unterschätzte extremistische Bedrohung für die öffentliche Sicherheit. Auch in Deutschland berichten Pädagogen und Meinungsforscherinnen von einem klaren Rechtsruck bei Jugendlichen, befeuert durch TikTok oder in Telegram-Gruppen.

Man könnte viele weitere Beispiele nennen, die alle das Bild bestätigen: bewaffnete Gruppen, Autokraten, Terroristen und Rechtsextreme haben Strategien für Kinder und Jugendliche, die ihren Zielen und Interessen dienen, gezielt entwickelt und gut finanziert. Wer das nicht erkennt, dem entgehen wichtige Hebel und Hinweise – sei es, um die Absichten von Konfliktparteien korrekt zu identifizieren oder sei es, um zu verhindern, dass über Kinder sensible Sicherheitsinformationen abgegriffen werden können. 

Das bedeutet auch, dass unsere Gegner uns häufig einen Schritt voraus sind: Während man in Berlin noch in den Zeitlinien von Haushaltsführung und Wahlperioden denkt, planen die Feinde von Demokratie und Freiheit bereits für die kommenden Jahrzehnte – und haben damit begonnen, die nächste Generation nach ihren Vorstellungen zu formen. 

Der blinde Fleck der deutschen Politik

Trotz aller Bekenntnisse zur integrierten Sicherheit“ fehlt in der deutschen Politik eine Strategie für den Umgang mit diesen Herausforderungen. In richtungsweisenden Dokumenten wie der Nationalen Sicherheitsstrategie oder den Leitlinien Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ kommen Kinder quasi nicht vor – und wenn, dann als Opfer. Im Abschlussbericht der Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan“ ist die Abwesenheit von Kindern und Jugendlicher noch eklatanter – war die Rekrutierung von Kindern im großen Stil doch einer der wichtigeren Faktoren, die den Taliban zum Sieg verhalfen und die internationale Gemeinschaft scheitern ließen.

Der blinde Fleck, wenn es um Kinder geht, zeigt sich auch in der Verteilung von Entwicklungs- und humanitären Geldern. So flossen im Nordirak seit der Rückeroberung der Gebiete des islamischen Staates 2017 nur rund 8.5% der deutschen Mittel in Projekte für Kinder und Jugendliche, das wenigste davon in Maßnahmen mit Konfliktbezug – obwohl weiterhin 50% der dortigen Bevölkerung minderjährig sind. 

Berlin ist in der Pflicht, diese Finanzierungslücke zu schließen. Illusionen sollte man sich aber keine machen: Bis der Prozess des Umdenkens in Sachen Demografie und Zeitplanung zu einem befriedigenden Abschluss gekommen ist, muss noch einiges geschehen. Ein erster Schritt wäre es, in den Konflikt- und Bedrohungsanalysen der Ressorts eine eigene Kategorie für Minderjährige einzurichten, ähnlich wie dies etwa für Frauen geschehen ist. Dafür könnten bereits vorliegende Informationen von Hilfs- und Kinderrechtsorganisationen genutzt und sicherheitspolitisch neu bewertet werden. Ziel muss es sein, gezielt gegen die Kinder- und Jugendstrategien von destabilisierenden Akteuren vorzugehen – ähnlich wie man heute Waffenlieferungen oder Geldflüsse an Milizen und Terrorgruppen unterbindet. 

Kinder dürfen dabei aber nicht pauschal als Bedrohung hingestellt werden. Gerade Jungen werden im sicherheitspolitischen Diskurs schnell als Gefährder stigmatisiert – was sie einem deutlich größeren Risiko aussetzt, in das Visier extremistischer Gruppen zu geraten. Es braucht Ansätze, die Minderjährige ernst nehmen, ihnen Schutz und Perspektiven bieten – und verhindern, dass sie zu Werkzeugen in den Händen gefährlicher Gruppen werden.

Das alles kostet Geld, und das in Zeiten von Mittelkürzungen. Zu übersehen, wie wichtig Kinder für viele gefährliche Akteure sind, ist aber ebenfalls kostspielig – und noch teurer, wenn als Konsequenz dieses Nichtwissens Jahrzehnte an Engagement hinfällig werden. Dass Terrorgruppen und autoritäre Staaten auf absehbare Zeit von Kindern ablassen werden, ist nicht zu erwarten: UNICEF bezeichnet 2024 als eines der verheerendsten Jahre in der Geschichte“ für Kinder in Konfliktgebieten. 

Wenn globale Strukturen wanken, wenn einst verlässliche Partner wie die USA sich abwenden, ist Deutschlands Einsatz für langfristige Sicherheit zentral. Die Frage, wie die Bundesregierung Kinder in diesen Einsatz einbezieht, wird mitentscheiden, wie wirksam und nachhaltig das deutsche Engagement ist.


Dieser Artikel wurde ursprünglich in der September/Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik veröffentlicht.