Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan: Wenn Schaden nicht klug macht
Außenpolitik ist keine einfache Sache: Oft liegen ihr Abwägungsentscheidungen zugrunde, zu deren Zeitpunkt gar nicht klar ist, wie sie sich auswirken. Sind Entscheidungen schwierig, weil begrenzte Informationen vorliegen. Ist erst in der Rückschau klar, wie man hätte handeln müssen.
Lehrstunde Enquete-Kommission
Umso wichtiger ist es deshalb, dass Regierungen kohärente Ziele haben, Abläufe gut gestalten und sich untereinander koordinieren. Das hat erst im Januar der Abschlussbericht der überparteilichen Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan“ gezeigt, die über drei Jahre das Handeln deutscher staatlicher Akteure bei der Stabilisierungsmission in Afghanistan ausgewertet hatte. Parteiübergreifend war danach von einem Scheitern die Rede, unter anderem hatten sich die deutschen Ministerien fast 20 Jahre lang nicht hinreichend koordiniert. Deutlich war das auch bei der Evakuierung sogenannter „Ortskräfte“ – Afghanen, die für die Bundeswehr und deutsche Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit tätig waren, die von den Taliban bedroht sind und für die Deutschland deswegen eine Fürsorgepflicht hat: Zwar schaffte es die Bundesregierung nach dem Ende des Afghanistan-Einsatzes noch, über verschiedene Aufnahmeverfahren rund 25.000 Ortskräfte mit ihren Familien und andere gefährdete Personen aufzunehmen. Doch statt des selbstgesteckten Ziels eines „vernetzen Ansatzes“ verzögerten die konkurrierenden Interessen der beteiligten deutschen Ministerien dabei dringend notwendige Vereinfachungen und verhinderten pragmatische Lösungen. Eine rechtzeitige Vermittlung durch Kanzlerin Angela Merkel blieb aus. Viele ehemalige Ortskräfte blieben trotz Gefährdung zurück. Entsprechend waren sich die Parteien einig, es in Zukunft anders zu machen: Rechtzeitig sollten vereinfachte Visaverfahren geprüft und unbürokratisch angewandt, dafür auch Erfahrungen aus dem „Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan“ (BAP) genutzt werden.
Neustart und Wiederholung im „Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan“
Das im Herbst 2022 aufgesetzte „Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan“ war also auch Signal eines Neuanfangs und Antwort auf vergangene Versäumnisse. Bis zu 31.000 weitere, besonders bedrohte Afghaninnen und Afghanen sollten über das Programm Schutz in Deutschland finden – dieses Mal in einem wohlorganisierten, klaren Verfahren. Aufwändig wurde die Identität der für das Programm vorgeschlagenen Personen überprüft, ihre individuelle Bedrohung untersucht und von Bundespolizei, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz geprüft, ob es irgendeinen Anhaltspunkt dafür geben könnte, dass von ihnen in Deutschland eine Gefahr ausgehen könnte.
Doch wie inzwischen dokumentiert scheitert das Programm ähnlich wie damals an widerstreitenden Interessen in der deutschen Bürokratie und fehlender Führung – insbesondere der Bundespolizei wird vorgeworfen, das Programm gezielt verzögert zu haben. Das Ergebnis: Bislang sind erst 1.500 Menschen in Deutschland angekommen. Tausende, sorgfältig aufbereitete Fälle sind noch unentschieden. Spektakulärer kann eine Afghanistan-bezogene Politik des Bundes nach der Enquete-Kommission nicht scheitern, als dass eine nachgeordnete Behörde – sozusagen ein der Regierung unterstellter Mitarbeiter – sie unterläuft, und die Chefs es laufen lassen. Nun steht das Programm komplett vor dem Aus, während 2.500 Menschen – darunter auch wenige Ortskräfte – trotz Aufnahmezusagen in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad festsitzen. Ob diese Zusagen eingehalten werden müssen, darüber ist die Union uneins.
Wie weiter?
Zugegeben: Dass das BAP unter der neuen, unions-geführten Bundesregierung keinen Bestand haben würde, war absehbar. Die Union hatte das Aus des Programms bereits im Wahlkampf angekündigt und dies auch in den Koalitionsvertrag überführt. So läuft Demokratie. Doch aus dem Wählerwillen ergibt sich kein Freifahrtschein für eine plötzliche Aussetzung des BAP, sondern der Auftrag für eine rechtsstaatliche, geordnete Abwicklung, bei der neben eingegangen Verpflichtungen außen- und innenpolitische Interessen mit der Verantwortung für die vom BAP erfassten Personen in Ausgleich gebracht werden müssen.
Das mindeste, was die Bundesregierung für einen solchen Ausgleich tun müsste, ist, allen Personen mit Aufnahmezusage so schnell wie möglich die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. Die Verfahren dafür sind alle vorhanden. Was es dafür vor allem braucht, ist eine gemeinsame Kommunikation der Regierung, bei der die Arbeit von Bundesbediensteten am BAP nicht etwa falsch dargestellt und entwertet wird (Markus Söder: „Formular ausfüllen (…), internetmäßig, weder die (…) Polizei noch irgendjemand sonst kontrolliert es“), sondern die rechtsstaatliche Verlässlichkeit der Bundesrepublik betont wird. Regierung muss mehr können als Opposition. Auch wenn unter den Zurückgebliebenen nur noch wenige Ortskräfte sind – die Gefährdeten sind Personen, die sich im Windschatten einer gescheiterten Afghanistan-Mission für ein besseres Land eingesetzt haben.
Die Fehler des Afghanistan-Einsatzes sind nicht rückgängig zu machen. Aber dass das Wort der Bundesregierung Bestand hat, und dass die Bundesregierung aus Fehlern ihrer auch mit Parteikollegen besetzten Vorgängerregierung lernt, das sollte man erwarten dürfen.