Commentary

Deutschland muss Indien im Fokus behalten

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Die Fregatte F 217 Bayern fährt im Atlantik auf dem Weg zum Indo-Pacific Deployment 2021.  | Photo: © Bundeswehr
06 Mar 2025, 
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Global Policy
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Der nächsten deutschen Regierung mangelt es nicht an Herausforderungen. Sie muss Europas größte Volkswirtschaft – gebeutelt durch hohe Energiekosten, wachsende Konkurrenz aus China und zwei Jahre Rezession – dringend wiederbeleben. Sie wird eine Reform der Einwanderungspolitik angehen müssen, die sich im Wahlkampf als zweites großes Thema herauskristallisiert hat. Und dann sind da noch die wachsende Unsicherheit in den transatlantischen Beziehungen unter Donald Trump und natürlich der andauernde Krieg in der Ukraine. Letztere erfordern nicht weniger als eine sorgfältige Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Will Deutschland die Herausforderungen bewältigen, die sich aus dieser schwierigen innen- und außenpolitischen Gemengelage ergeben, braucht das Land Partnerschaften über Europa und die USA hinaus. Die sich derzeit formierende neue Koalitionsregierung täte also gut daran, an die Arbeit ihrer Vorgängerin anzuknüpfen und speziell die strategische Partnerschaft mit Indien weiter zu vertiefen.

Gleich mehrere Initiativen der scheidenden Regierung brachten Ende letzten Jahres neue Bewegung in die deutsch-indischen Beziehungen. Allein im Oktober 2024 veröffentlichte die Bundesregierung zwei neue Strategiedokumente – das Grundsatzpapier Fokus auf Indien“ und die Fachkräftestrategie Indien“. Indien war zudem Gastgeber sowohl der siebten.deutsch-indischen Regierungskonsultationen als auch der 18.. Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft. Den Konsultationen ging der Besuch einer Delegation des Deutschen Bundestags (zusammen mit australischen Parlamentariern) nach Neu-Delhi im Rahmen des Programms Global Dialogue“ der Robert Bosch Stiftung voraus. In Deutschland spiegelten diese Bemühungen den partei- und ressortübergreifenden Wunsch wider, die Beziehungen zu Indien zu festigen – in der Hoffnung, damit die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit und Innovationskraft beider Länder zu stärken und geopolitisch zu mehr Stabilität beizutragen. In Neu-Delhi wiederum wurden sie als wichtiges Signal aufgenommen, dass Indien bei den politischen Entscheidungsträgerinnen in Deutschland einen hohen Stellenwert genießt.

Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage zuhause und international kann die nächste Bundesregierung viel gewinnen, wenn sie an diese vielversprechende Partnerschaft mit Indien anknüpft. Konkret sollte sie dafür vier Bereiche in den Blick nehmen: die maritime Sicherheit im Indopazifik, die Energiewende und den Kampf gegen den globalen Klimawandel, Handel und Migration sowie die angewandte Forschung und Technologiepartnerschaften. In allen Politikfeldern besteht das Potenzial, die deutsch-indische Zusammenarbeit durch strategische Initiativen nachhaltig zu vertiefen – zum Nutzen beider Länder.

Maritime Sicherheit im Indopazifik

Deutschland und Indien haben ein gemeinsames Interesse daran, den Indopazifik als freien, offenen und politisch stabilen Raum zu schützen. Obwohl die Region geografisch weit von Europa entfernt liegt, ist sie sowohl für Deutschland als auch ganz Europa von enormer wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Relevanz. Derzeit werden etwa 20% des deutschen Handels im Indopazifik abgewickelt. Die Hälfte der für Deutschland bestimmten Seelieferungen durchquert den Indischen Ozean, ebenso wie der Großteil des europäischen Seehandels. Auch für den Welthandel insgesamt ist die Region entscheidend. So werden jährlich 30% des Handels zu See über das Südchinesische Meer und 80% über den Indischen Ozean abgewickelt. Für Indien wiederum ist die Aufrechterhaltung einer regelbasierten Ordnung im Indopazifik nicht nur aus Gründen der globalen Wohlstandssicherung wichtig, sondern auch mit Blick auf die Stabilität in der eigenen Region.

Deutschland hat bereits Schritte unternommen, um seine Präsenz im Indopazifik zu verstärken. 2024 führte die deutsche Marine zum zweiten Mal einen Einsatz in der Region durch, bei dem die Fregatte Baden-Württemberg“ durch den Indischen Ozean segelte und an gemeinsamen Militärübungen mit Indien, Japan, den USA und anderen Verbündeten teilnahm. Ein wichtiges Ziel dieser Kooperation ist es, die Handelsrouten in der Region offen zu halten. Zweitens soll ein Gegengewicht geschaffen werden zur Präsenz und zum teils aggressiven Gebaren Chinas in den Seewegen, die für den Welthandel von zentraler Bedeutung sind. Dazu zählt auch das Südchinesische Meer, das die Baden-Württemberg“ jüngst durchquert hat. Aufgrund seiner strategischen Bedeutung ist der Indopazifik jedoch auch ein zunehmend überfüllter Schauplatz. Als außerregionale Macht muss Deutschland die eigene Rolle in der Region deshalb klar definieren.

Auch Indien hat in den vergangenen Jahren Maßnahmen ergriffen, um seine Rolle als Net Security Provider“ in der Region zu stärken. Insbesondere seit Verabschiedung der indischen Strategie für die maritime Sicherheit im Jahr 2015 setzt Neu-Delhi Kriegsschiffe, Drohnen und Überwachungsflugzeuge in humanitären Einsätzen, aber auch in Operationen zur Bekämpfung von Terrorismus und Piraterie ein. Indiens neuer Fokus auf die maritime Sicherheit ist auch eine Antwort auf die Politik Chinas, das seine Land- und Seefähigkeiten im Südchinesischen Meer und im Indischen Ozean kontinuierlich ausbaut. Das deutsche Fokus auf Indien“-Papier, das den Wert Indiens als Sicherheitspartner“ in der Region ausdrücklich betont, zeigt, dass Berlin diese Aufrüstungsdynamik erkannt hat.

Um ihre Übereinstimmungen bei wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen“ zu verwirklichen, sollten sich die nächste deutsche Bundesregierung und ihr Pedant in Neu-Delhi auf zwei parallele Ansätze konzentrieren. Erstens sollten sie, wie im deutschen Strategiepapier dargelegt, eine praktische Zusammenarbeit“ zwischen den beiden Streitkräften sowie eine verlässliche Rüstungszusammenarbeit“ anstreben. Die deutsche Marine muss ihre Aktivitäten in der Region in Zusammenarbeit mit ihrem indischen Gegenüber verstärken. Das bedeutet unter anderem, komplexere Manöver wie Nachschubübungen auf See und gemeinsame Übungen für Offensiv- und Defensivszenarien durchzuführen. Ein Austausch von Besatzungsmitgliedern zwischen Schiffen ermöglicht wiederum Einblicke in das Leben und die Arbeit indischer Marineoffiziere. Eine solche Zusammenarbeit dient nicht nur der Ausbildung, sondern fördert auch das interkulturelle Verständnis und den persönlichen Kontakt zwischen den Besatzungen.

Zweitens müssen Deutschland und Indien ihr gemeinsames Versprechen einlösen, die Zusammenarbeit auf industrieller Ebene im Verteidigungssektor zu verbessern“. Der Schwerpunkt sollte dabei auf der technologischen Zusammenarbeit und der gemeinsamen Entwicklung und Herstellung von Verteidigungsplattformen und Ausrüstung liegen. Dadurch würden auch der derzeit erhebliche Einfluss Russlands als Produzent für Militärexporte nach Indien geschwächt. Zwischen 2019 und 2023 machten Lieferungen aus Russland 36% der indischen Verteidigungsimporte aus. Die jüngste Ankündigung des Maschinenbau- und Stahlkonzerns Thyssenkrupp, gemeinsam mit dem staatlichen indischen Unternehmen Mazagon Dock Shipbuilders (MDS) sechs hochmoderne konventionelle U‑Boote für die indische Marine zu bauen, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wenn Anforderungen, Preisvorstellungen und Verfügbarkeit übereinstimmen, wird die neue deutsche Regierung mit weiteren Aufträgen ähnlicher Art rechnen können.

Wenn es um die Sicherheit im indopazifischen Raum geht, führt kein Weg an Indien vorbei. Aber auch die wachsende wirtschaftliche und technologische Bedeutung der indischen Wirtschaft machen das Land zu einem natürlichen Kandidaten für die Art von verlässlicher Partnerschaft in der Welt, nach denen Deutschland und Europa jetzt suchen müssen. Sollte Deutschland planen, bald in den indopazifischen Raum zurückzukehren, um das eigene Engagement für die Aufrechterhaltung der freien Schifffahrt im Indischen Ozean unter Beweis zu stellen, sollte die deutsche Marine bereit sein, an der Seite Indiens zu segeln.

Klima und Energie

Eine engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Indien ist auch sinnvoll, wenn es um die Entwicklung sauberer Energiequellen und die Bekämpfung des Klimawandels geht. Die Auswirkungen der Klimakrisen stellen insbesondere für Indien ein Wirtschafts- und Sicherheitsproblem dar – aber auch Deutschland und Europa sind zunehmend betroffen.

Wenn die indische Wirtschaft und Bevölkerung weiterhin mit der derzeitigen Geschwindigkeit wachsen, werden der Energiebedarf und ‑verbrauch des Landes stark steigen. Dies gilt insbesondere für die indischen Großstädte, da immer mehr Menschen auf der Suche nach Arbeitsplätzen und einem besseren Leben vom Land in die Stadt ziehen. Dieses Wachstum wird sich auf den globalen Energiemärkten bemerkbar machen, denn Indien muss derzeit etwa 40% seiner Energie importieren, ebenso wie in einem entsprechenden Anstieg der nationalen Treibhausgasemissionen.

Indien ist schon heute der drittgrößte Emittent von Treibhausgasen weltweit, nach China und den USA. Um den ökologischen Fußabdruck des Landes zu reduzieren, hat die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi große Anstrengungen unternommen, um die Abhängigkeit des Landes von der Kohle zu verringern. Auf der Internationalen Klimakonferenz in Glasgow (COP26) im Jahr 2021 kündigte sie das Ziel an, den Anteil erneuerbarer Energien am indischen Energiemix bis 2030 auf 450 Gigawatt zu erhöhen. Wenn das gelingt, würde dies eine Verdreifachung der Kapazität der erneuerbaren Energien in weniger als zehn Jahren bedeuten.

Mit Blick auf eine grüne Energiewende können sowohl Deutschland als auch Indien von einer stärkeren Zusammenarbeit im Bereich saubere und erneuerbare Energien profitieren. Bestehende deutsch-indische Initiativen – beispielsweise die gemeinsame Green Hydrogen Task Force oder das Indo-German Energy Forum – sind eine solide Grundlage, auf die aufgebaut werden kann. Eine zwischen Uniper und Greenko ZeroC unterzeichnete Vereinbarung über die Beschaffung von grünem Ammoniak aus Indien ist ein ermutigendes Beispiel für die Rolle, die Indien in der Versorgung Deutschlands mit kohlenstoffarmen Wasserstoffprodukten spielen kann. Auch die deutsch-indische Zusammenarbeit bei der Bereitstellung von flexiblem Strom aus erneuerbaren Energien und anderen Wasserstoffprodukten wie E‑Methanol und nachhaltigen Flugkraftstoffen sind vielversprechende Bereiche, in denen die gemeinsame Forschung und Entwicklung weiter vorangetrieben werden kann.

Deutschland hat einen starken wirtschaftlichen Anreiz, weiterhin in die Energiewende des bevölkerungsreichsten Landes der Welt zu investieren – sowohl politisch als auch finanziell. Aller Voraussicht nach wird der indische Energiemarkt in den kommenden Jahren enorm wachsen. Um diesen Wandel in Indien mit voranzutreiben, kann Deutschland auf sein 10 Milliarden Euro schweres Engagement aufbauen, indem es Initiativen für saubere Energie fördert. Diese würden Indien wiederum bei der Erreichung seiner Klimaziele unterstützen. Organisationen wie der Deutsche Solarverband sind gut positioniert, um gemeinsam mit Unternehmen in indischen Bundesstaaten wie Gujarat und Andhra Pradesh einen schnellen Ausbau der Solar- und Windenergieerzeugung zu forcieren. Durch die dort vorhandene Infrastruktur, günstigen Geschäftsbedingungen und das große Potenzial für erneuerbare Energien sind spezielle diese Bundesstaaten wichtige Anlaufstellen für internationale Kooperationen und deutsch-indische B2B-Initiativen. Damit die schon jetzt ehrgeizigen Ziele der deutsch-indischen Zusammenarbeit im Bereich erneuerbare Energien erreicht und weiter ausgebaut werden können, braucht es eine gezielte Umsetzung in den verschiedenen Regionen Indiens, also auf Bundesstaatsebene.

Auch Neu-Delhi strebt eine stärkere Zusammenarbeit mit seinen Partnern im Bereich der Energiesicherheit an. Während die EU bereits Programme zur Anpassung an den Klimawandel mit Entwicklungsgeldern unterstützt, könnte sich Deutschland in diesem Bereich noch stärker engagieren. Um Indien dabei zu helfen, Schwankungen in der Energieversorgung besser auszugleichen, wenn sie aus grüner Energie gespeist wird, sollte die deutsche Entwicklungsbank KfW ihre Arbeit zur Modernisierung der indischen Energieverteilungsnetze ausweiten. Dadurch könnten sowohl Stromverluste als auch Treibhausgasemissionen reduziert werden. Durch eine solche Stärkung der indischen Verteilernetze und deren effizienten Verwaltung könnte Deutschland zudem einen wichtigen Beitrag dazu leisten, eine stabile Stromversorgung für die indische Bevölkerung sicherzustellen und damit Indiens wirtschaftliche Entwicklung zu gewährleisten.

Handel, Migration und Austausch

Indien und Deutschland pflegen bereits eine solide Wirtschaftspartnerschaft. Im Haushaltsjahr 2022 – 2023 etwa lag der bilaterale Handel bei stattlichen 26 Milliarden Euro. Innerhalb der EU ist Deutschland Indiens größter Handelspartner und Indien zählt zu den wichtigsten Handelspartnern Deutschlands in Asien. Gleichzeitig gibt es aber auch hier viel Potenzial nach oben. Im Februar dieses Jahres wurden die Gespräche über das seit langem blockierte Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien nach einem Besuch von EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen in Indien wieder aufgenommen. Das Abkommen ist auch eine Chance für einen gemeinsamen wirtschaftspolitischen Kurs Deutschlands und der EU gegenüber Indien. Beide Parteien – Europa und Indien – sollten die Gelegenheit nutzen, um die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen. Europa braucht angesichts der sich verändernden globalen Handelsdynamik dringend stärkere Handelspartner. Und auch Indien ist einem neuen Zolldruck aus den USA ausgesetzt ist. Eine stabile Wirtschaftspartnerschaft ist für beide Seiten wichtig.

Solange ein Durchbruch beim Freihandelsabkommen aussteht, sollten Deutschland und Indien weiterhin dem sektorspezifischen Handel Priorität einräumen. Dazu gehören Maschinen, Elektronik, Chemikalien, Luftfahrttechnologie und Fahrzeuge. Der Handel mit diesen Gütern sollte jedoch nicht die parallelen Kooperationen in den Bereichen Klima, Energie und Technologie überschatten. Um den bilateralen Handel langfristig auf nachhaltige Beine zu stellen, braucht es mehr deutsch-indische Zusammenarbeit bei den strategischen und Zukunftstechnologien wie künstlicher Intelligenz (KI), Halbleitern und der digitalen Infrastruktur – Bereiche, die schon jetzt die Investitionstätigkeit der beiden Länder prägen.

Ebenso macht es für beide Länder Sinn, die schon jetzt erfolgreichen Bemühungen um eine reibungslosere Zusammenarbeit zwischen Unternehmen aus Indien und Deutschland fortsetzen. Bei den jüngsten deutsch-indischen Regierungskonsultationen 2024 betonten beide Seiten den Erfolg des Fast-Track-Systems für indische Unternehmen, die in Deutschland tätig sind. Dieses 2017 eingeführte System vereinfacht Genehmigungen, Visa-Angelegenheiten und behördliche Prozesse und sorgt so für einen effizienteren Geschäftsbetrieb. Andere Initiativen wie das German Indian Startup Exchange Program (GINSEP) und seine Partnerschaft mit dem MeitY Startup Hub haben das bilateral Startup-Ökosystem gestärkt, das beide Länder als zentral für ihre lukrative Wirtschaftspartnerschaft betrachten, sowie Markteintritte, Wissensaustausch und Investitionen erleichtert. Fruchten werden diese Bemühungen jedoch nur dann, wenn diese Plattformen entsprechende Kapazitäten und Fähigkeiten entwickeln können, um bilaterale Kooperationen sinnvoll zu skalieren und aufrechtzuerhalten.

Handel, Migration und menschliche Mobilität sind eng miteinander verschränkt. Starke wirtschaftliche Beziehungen schaffen eine Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften; eine größere Mobilität von Fachkräften, Studierenden und Unternehmern stärkt Handels- und Investitionsnetzwerke. Die grenzüberschreitende Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen zu erleichtern ist für beide Länder von Vorteil: Indien hat einen Überschuss an Fachkräften und einen Mangel an Arbeitsplätzen, während Deutschland mit einem Mangel an Fachkräften gerade in Schlüsselsektoren zu kämpfen hat. Über eine Fortsetzung des mit Indien bestehenden Partnerschaftsabkommens für Migration und Mobilität kann Deutschland hochqualifizierte indische Fachkräfte anwerben, um die deutsche Wirtschaft wieder anzukurbeln und wachstumsstarke Sektoren aufzubauen. Im Gegenzug tragen die Überweisungen indischer Facharbeiter nach Indien dazu bei, die in vielen indischen Haushalten nach wie vor reale Armut zu verringern und die Wirtschaftstätigkeit im Land zu steigern. Die deutsche Fachkräfte-Strategie für Indien skizziert konkrete Maßnahmen, wie Talente aus Indien angeworben und integriert werden können. Nun braucht es nachhaltige Anstrengungen, um die Strategie in die Realität umzusetzen.

Auch die Verbindungen, die durch die indische Diaspora in Deutschland geschaffen worden sind, könnte Deutschland effektiver nutzen. Über 50.000 Menschen aus Indien studieren derzeit in Deutschland und bilden damit die zweitgrößte Gruppe ausländischer Studierender im Land. Diese wachsende indische Präsenz, zusammen mit Fachkräften in stark nachgefragten Sektoren, prägt nach und nach auch den akademischen und gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland. Im Vergleich zu den USA und Großbritannien, wo eine gut etablierte indische Diaspora das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben mitprägt, muss Deutschland diese Beziehungen jedoch erst noch voll ausschöpfen. Ein tieferes kulturelles und geschäftliches Verständnis für Indien würde Deutschland auch dabei helfen, den Handel zwischen den Ländern zu stärken, Investitionen gezielt fördern und neue Bereiche für eine engere Zusammenarbeit erschließen. Angesichts der Größe Indiens sind Partnerschaften zwischen Staaten und Städten besonders sinnvoll. Auch hier gibt es, mit wenigen Ausnahmen, noch viele ungenutzte Chancen.

Angewandte Forschung und Technologie

Seit die deutsch-indischen Beziehungen 1974 durch ein zwischenstaatliches Abkommen über wissenschaftliche Forschung und technologische Entwicklung erstmals formalisiert wurden, sind angewandte Forschung und Technologiepartnerschaften ein Eckpfeiler dieser bilateralen Beziehung. Das Abkommen legte den Grundstein für jahrzehntelange gemeinsame Initiativen. Der Bedarf nach Spitzenforschung, insbesondere in Umweltfragen, wird jedoch nur weiter wachsen. Als weltweit führende Nation in den Bereichen angewandte Forschung und Technologieentwicklung sollte Deutschland auch hier gezielt in eine engere Zusammenarbeit mit dem Land investieren, das die Talente von heute und morgen hervorbringt.

Dafür sollten einerseits bestehende Partnerschaften, die greifbare Vorteile bieten, fortgesetzt und ausgebaut werden – und davon gibt es zahlreiche. Das Indo-German Science and Technology Centre (IGSTC), beispielsweise, fördert die angewandte Forschung in Bereichen wie der hochentwickelten Fertigung, Embedded Systems und nachhaltige Energie und schlägt eine wertvolle Brücke zwischen Wissenschaft und Industrie. Der 2017 ins Leben gerufene International Digital Dialogue zwischen Indien und Deutschland zielt auf eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Internet-Governance, Regulierung neuer Technologien und digitale Transformation ab und will so ein innovationsfreundliches Ökosystem fördern. Bei der gemeinsamen Regierungskonferenz im Oktober 2024 bekräftigten beide Länder ihr gemeinsames Engagement für Innovation, Mobilität und Nachhaltigkeit und legten außerdem einen strukturierten Fahrplan für die digitale Zusammenarbeit vor. 

Diese Forschungspartnerschaft muss nun auch in den Bereichen vorangetrieben werden, die mit den strategischen Zielen der deutsch-indischen Partnerschaft zusammenfallen. Gemeinsame Anstrengungen und Entwicklungstätigkeit in Feldern wie Energie, Wasserwirtschaft, Landnutzung und Abfallwirtschaft sind hier zentral, denn sowohl Deutschland als auch Indien stehen mit Blick auf Fragen der Ökologie und Nachhaltigkeit vor komplexen Herausforderungen. Gemeinsam können die Länder skalierbare Lösungen für drängende Umweltprobleme entwickeln – wenn sie ihre Forschungs- und Umsetzungskapazitäten bündeln.

Keine Zeit Verlieren

Sicherheit auf See, Kampf gegen den Klimawandel, Handelspolitik, neue Technologien – all diese sich überlappenden Herausforderungen erfordern mehr Zusammenarbeit zwischen einflussreichen Staaten wie Deutschland und Indien. Es ist heute unmöglich, über die Sicherheit im indopazifischen Raum zu sprechen, ohne die wachsende Bedrohung durch den Klimawandel mitzudenken, der die Instabilität in der Region zusätzlich verschärft. Und Diskussionen über die Umstellung ganzer Volkswirtschaften auf grüne Energiequellen lassen sich nicht von Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen trennen, wenn wir sicherstellen wollen, dass die wirtschaftlichen und soziale Gewinne des Wandels alle Teile der Gesellschaft erreichen. Wenn Deutschland und Indien jetzt nicht gemeinsam handeln, riskieren sie, bestehende Probleme weiter zu vertiefen und künftige Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit zu verpassen.

Andersherum teilen beide Länder wichtige Ziele, bieten einander komplementäre Fähigkeiten und können an bereits bestehende Verbindungen anknüpfen. Damit sind sie gut aufgestellt, um viele der drängenden globalen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Die neue Bundesregierung sollte den Ansatz ihrer Vorgängerin in den kommenden Jahren weiterentwickeln und die Partnerschaft mit Indien langfristig sowohl breiter aufstellen als auch in den vier genannten Politikbereichen bewusst vertiefen. Eine fokussierte Zusammenarbeit in Schlüsselsektoren schafft wichtiges Vertrauen und beweist, dass Kooperation Ergebnisse hervorbringt. Eine vielfältige Agenda wiederum sorgt für Flexibilität und Spielraum, wenn sich Umstände oder Prioritäten ändern. Eines ist jedoch sicher: Angesichts der geopolitischen Umbrüche und Machtverschiebungen sollten Deutschland und Indien keine weitere Zeit verlieren. Bilaterale Projekte zu verzögern, wird nicht nur die Wirtschafts- und Sicherheitsaussichten beider Länder schwächen, sondern auch zu Enttäuschung und Frust führen. Die neue deutsche Regierung kann es sich schlicht nicht leisten, Indien aus dem Fokus zu verlieren.


Dieser Kommentar wurde ursprünglich am 5. März 2025 in englischer Sprache in Global Policy veröffentlicht.