Commentary

Universität als Risikozone – für alle

Warum die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland nicht bedroht ist

Binder 2021 Universität als Risikozone
Source: Edwin Andrade / Unplash

Die Wissenschaft ist ein Teil der Gesellschaft. In Deutschland, wie in anderen westlichen Gesellschaften auch, verlaufen die gesellschaftlichen Konfliktlinien zunehmend entlang von Generationengrenzen. Vor allem in Fragen des Klimawandels und der Gleichberechtigung lässt sich verstärkt ein Generationenkonflikt beobachten. Auf der einen Seite stehen die Jahrgänge über 55 Jahren. Sie möchten diese Fragen mit einem langen Atem und inkrementellem Wandel angehen. Auf der anderen Seite stehen die sogenannten Millenials, also jene, die zwischen 1981 und 1996 geboren wurden, sowie zunehmend die Generation Z, also die Kohorte der zwischen 1997 und 2015 Geborenen. Viele dieser jüngeren Generationen fordern eine konsequentere und schnellere Einhegung des Klimawandels und umfassendere Gleichberechtigung. Aufgrund der demographischen Entwicklung stellt die Generation 55+ jedoch zahlenmäßig die Mehrheit. Unsere demokratischen Institutionen und politischen Entscheidungen – und nicht zuletzt auch die Wahlen – werden daher zwangsläufig von der älteren Generation dominiert. Das erschwert die Befriedung des Generationenkonflikts durch eben diese Institutionen. Verschärft wird dieses Problem durch die Tatsache, dass Entscheidungsmacht und das tatsächliche Erleben der Konsequenzen beispielsweise des Klimawandels zeitlich auseinander fallen. 

Dieser Generationenkonflikt macht auch vor den deutschen Universitäten nicht halt. Im Gegenteil, die Universität ist der prädestinierte Ort in unserer Gesellschaft, um ihn auszutragen. Nirgendwo sonst treffen die beiden Generationen so direkt aufeinander und teilen sich gleichzeitig an den Altersgrenzen entlang in unterschiedliche Statusgruppen. Auf der einen Seite steht dabei die Professorenschaft, auf der anderen Seite stehen die Studierenden und prekär beschäftigten Forschenden. Diese Konstellation ist vergleichbar mit der Studentenbewegung des Vormärz in den 1840er Jahren und der Studentenrevolte der 68-er-Bewegung. Im historischen Vergleich fällt der aktuelle Konflikt aber noch milde aus: Statt Sit-Ins und Unruhen gibt es Diskussionen um inklusive Sprache und den Umgang mit Minderheiten. Im Extremfall werden Professor:innen ausgepfiffen oder erleben einen Shitstorm in den sozialen Medien.

Diesen Generationenkonflikt als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit zu interpretieren, wie der Kölner Rechtsprofessor Bernhard Kempen es in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tat, ist aus drei Gründen problematisch. Erstens blendet diese Auslegung die Machtverhältnisse zwischen Kritisierten und Kritisierenden aus. Zweitens verwischen die Argumente der Selbstzensur und Engführung des Diskurses die Linie zwischen Freiheit und Qualität der Wissenschaft. Und drittens besteht so die Gefahr, den Blick für jene Entwicklungen zu verlieren, welche die Freiheit der Wissenschaft tatsächlich bedrohen. 

Machtverhältnisse (an)erkennen

Die wissenschaftliche Freiheit ist dann bedroht, wenn Wissenschaftler:innen individuell oder strukturell vorgeschrieben wird, was sie zu erforschen oder zu lehren haben – oder wenn sie an ihrer Forschung oder Lehre dauerhaft gehindert werden. Der Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit ist umso einschneidender, je mächtiger die Akteure sind, von denen er ausgeht. 

Bernhard Kempen argumentiert, dass die Vertreter:innen von wokeness“ und political correctness“ alle anderen in die Selbstzensur zwängen. Um bewerten zu können, ob und inwiefern die Wissenschaftsfreiheit hier tatsächlich bedroht ist, ist es wichtig, die Machtverhältnisse zwischen Kritisierten und Kritisierenden zu berücksichtigen. Der Vorwurf mangelnder political correctness“ wird in der Regel von Studierenden oder Nachwuchswissenschaftler:innen gegen Teile der Professorenschaft erhoben. Innerhalb und außerhalb der Universität sind Studierende und Nachwuchsforschende aufgrund ihres Alters und Status weniger mächtig als Professor:innen. Dieses Machtungleichgewicht spiegelt Bernhard Kempen selbst wider, wenn er einerseits beklagt, dass sich Wissenschaftler in ihrer Freiheit durch wissenschaftsimmanente Mechanismen oder political correctness‘ zunehmend eingeengt fühlen“, um andererseits von den Studierenden zu erwarten, es hinzunehmen, dass die Lehre verwirrt, verstört, unangenehm berührt, dass sie sogar Wunden aufreißt“. Gleichfalls sind mache Fachbereiche wie die Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften gemessen an den ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln, der Zahl der Professuren oder der öffentlichen Positionen jenseits der Universität mächtiger als die von Bernhard Kempen kritisierten Bereiche der Klima‑, Gender‑, Migrations- oder Geschichtsforschung. Die reellen Möglichkeiten von Studierenden und Nachwuchsforschenden, die zu über 90 Prozent existentiell von befristeten Stellen und damit von den Lehrstuhlinhaber:innen abhängig sind, eben letztere in die Selbstzensur zu zwingen, sind begrenzt.

Bernhard Kempen hat Recht, wenn er die Universität als Risikozone bezeichnet. Jedoch birgt sie nicht nur das Risiko für Studierende, etwas zu hören, das sie verwirrt oder gar verstört. Sie birgt auch das Risiko für etablierte Wissenschaftler:innen, dass eine junge Generation ihnen vorhält, ihre Sprache, Methoden und Ansätze genügten nicht mehr. Diese Diskurse sind nicht das Ende der Wissenschaftsfreiheit – sie sind die Saat des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts. Nicht alles, was die junge Generation hervorbringt wird sich bewähren. Aber zuhören lohnt sich. 

Nehmen wir das Beispiel der sogenannten Trigger-Warnung, also Hinweisen auf potenziell verstörende Vorlesungsinhalte, auf Grund derer Studierenden die Teilnahme an den entsprechenden Sitzungen freigestellt wird. Trigger-Warnungen gehören, wie Herr Kempen richtig feststellt nicht zum Pflichtenkanon des Lehrpersonals“. Schon allein deshalb können sie die Lehrfreiheit nicht einschränken. Aber nehmen wir einmal an, ein Juraprofessor folgt den Forderungen einiger Studierender und spricht nicht nur von Studenten, sondern auch von Studentinnen und Studierenden mit diversem Geschlecht. Ergebnisse psychologischer Studien legen nahe, dass der Professor in diesem Szenario bei der Vorlesungsvorbereitung nicht nur an seine männlichen Studierenden, sondern auch an alle anderen denkt. Von dieser Perspektiverweiterung ist es für ihn nur noch ein kleiner Schritt dahin, anzuerkennen, dass in seiner Vorlesung über Vergewaltigung als Straftatbestand wahrscheinlich nicht nur eine, wie Kampen meint, sondern zahlreiche Personen sitzen, die persönliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt gemacht haben. Statistisch betrachtet ist es wahrscheinlich, dass in einer Strafrechtsvorlesung von sagen wir 120 Teilnehmenden circa 20 bis 25 Personen sexuelle Gewalt erfahren haben. Laut dem Robert Koch-Institut haben in Deutschland 35 Prozent aller Frauen über 15 Jahren Erfahrung mit körperlicher und/​oder sexueller Gewalt. Hinzu kommen homo- und transsexuelle Menschen, die ebenfalls stark von (sexueller) Gewalt betroffenen sind, sowie die selteneren männlichen Opfer sexueller Gewalt. Niemand, und schon gar nicht die Betroffenen selbst, fordert, dass Vorlesungen zur Vergewaltigung im Strafrecht abgeschafft werden. Eine Trigger-Warnung kostet den Professor vielleicht eine Minute der Vorlesungszeit, aber sicherlich nicht die Wissenschaftsfreiheit. Vielmehr ist sie eine Frage der Empathie. Lehrende sind frei darin, zu warnen – oder nicht. Niemand wird dazu gezwungen.

Engführung des wissenschaftlichen Diskurses

In seinem Beitrag beklagt Bernhard Kempen auch, dass in gewissen Bereichen wie der Klima‑, Gender‑, Migrations- und Geschichtsforschung bestimmte Positionen oder Personen aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen würden. Hier verkennt Herr Kempen, dass etablierte Forschungsdisziplinen durch das Aufkommen neuer Ansätze nicht einfach so verdrängt oder eingeschränkt werden können. Professor:innen, die ihre gesamte wissenschaftliche Karriere bestimmten Themen und Methoden gewidmet haben, können schwerlich dazu gezwungen werden, diese plötzlich nicht mehr zu verfolgen. Im schlimmsten Fall erfahren einstmals anerkannte Wissenschaftler:innen einen relativen Bedeutungsverlust. Kontroverse Auseinandersetzungen über legitime und gute wissenschaftliche Methoden und Standards sind kein Phänomen, das den von Bernhard Kempen kritisierten Forschungsfeldern entspringt. Es gibt sie in den Sozial- und Geisteswissenschaften ebenso wie zum Beispiel in der Physik, wo sich Befürworter und Gegner der Theorie von Multiversen wenig versöhnlich gegenüberstehen. Diese intra- und interdisziplinären Debatten sind keine Bedrohung für die Wissenschaftsfreiheit – sie sind Ausdruck einer freien und pluralistischen Wissenschaftslandschaft. 

Auch eine systematische Engführung des wissenschaftlichen Diskurses durch Genderstudien und postkoloniale Theorien können wir in Deutschland nicht erkennen. Wie Bernhard Kempen selbst sind auch wir keine Akademiker:innen in diesen Forschungsfeldern und können die Debatte deshalb nur von außen beurteilen. Aber der Vorwurf, dass die Genderstudien sich – zumindest in Teilen – weigern, die Anschlussfähigkeit ihrer Disziplin in einen transdisziplinären Gesamtkontext zu ermöglichen“, erscheint uns unfair. Uns ist die Genderforschung vielmehr als ein Feld bekannt, das aktiv nach eben jener Transdisziplinarität strebt. So hat sie mit der persistenten Forderung nach geschlechtsdifferenzierten Daten beispielsweise der Humanmedizin ein Instrument an die Hand gegeben, um ihren systematischen männlichen Bias anzugehen. Dieser ist empirisch belegt, kein Ausdruck von Identitätspolitik. Und er hat handfeste Konsequenzen. So erleiden beispielsweise Frauen in Deutschland zwar seltener Herzinfarkte, versterben aber häufiger daran. Warum das so ist, ist wenig erforscht. Eine Hypothese ist, dass Frauen bei Herzinfarkten andere Symptome zeigen als Männer, es jedoch nach wie vor die männlichen Symptome‘ sind, die Ersthilfe und Diagnostik leiten. Ähnliches beobachten wir für die ebenfalls stark kritisierten postkolonialen Theorien. Sie verengen den Diskurs aus unserer Sicht nicht, sondern differenzieren ihn. Wir als Wissenschaftler:innen in den Bereichen Demokratieforschung und Internationale Politische Ökonomie profitieren in unserer Arbeit von den Erkenntnissen und Innovationen dieser Forschungsfelder. Sie bedrohen nicht die Freiheit der Wissenschaft, sondern stärken ihre Qualität.

Besonders irritierend ist jedoch, dass Bernhard Kempen explizit die Klimaforschung in seine Kritik der Engführung des wissenschaftlichen Diskurses miteinbezieht. In der Klimaforschung herrscht evidenzbasiert ein wissenschaftlicher Konsens. Wer sich an der Universität außerhalb dieses Konsenses sieht, steht in der Pflicht, die Evidenz zu widerlegen. Das ist keine Engführung des Diskurses, sondern gute wissenschaftliche Praxis. 

Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit

Dennoch: Neben den von Herrn Kempen genannten Einzelfällen sehen sich auch Wissenschaftler:innen, die zu Rechtspopulismus oder Rechtsterrorismus forschen, sowie solche, die eine Migrationsgeschichte haben, oft physischen Bedrohungen ausgesetzt oder müssen sich mit Rechtsstreitigkeiten herumschlagen. Anstatt auf Grundlage dieser Einzelfälle die Errungenschaften der Aufklärung bedroht zu sehen, befürworten wir jedoch einen gelasseneren und vor allem evidenzbasierten Blick.

Hier setzt der Academic Freedom Index (AFi) an. Dieser ist ein globaler und von mehr als 2000 Expert:innen kodierter Zeitreihendatensatz, der verschiedene Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit misst. Konkret setzt sich der AFi aus fünf Indikatoren zusammen: die Freiheit der Lehre und Forschung, die Freiheit zum Austausch und zur Kooperation mit anderen Wissenschaftler:innen, institutionelle Autonomie der Universitäten, die Freiheit von Überwachung auf dem Campus sowie die wissenschaftliche und kulturelle Ausdrucksfreiheit. Der Index attestiert der Bundesrepublik Bestnoten in allen Bereichen. Lediglich die Wertung im Indikator zur wissenschaftlichen und kulturellen Ausdrucksfreiheit, welcher abbildet, wie frei sich Wissenschaftler:innen in einem Land politisch äußern können, hat sich im Verlauf der letzten fünf Jahre leicht nach unten bewegt. Der Rückgang liegt jedoch innerhalb des Konfidenzintervalls und ist daher kein eindeutiger Beleg für eine Verschlechterung. 

Statt einer vermeintlichen Selbstzensur sehen wir in Deutschland beim Thema akademische Freiheit vielmehr den Umgang mit Forschungsfinanzierung durch autoritäre Regierungen oder die unüberlegte Kooperation mit Forschungsinstitutionen in diesen Staaten mit Sorge. Ein Blick nach Großbritannien zeigt, dass wir uns hier auf dünnem Eis bewegen, was die Wissenschaftsfreiheit angeht. Die deutsche Wissenschaft braucht dringend eine Debatte, wie ein weltoffener, aufgeklärter Umgang mit Forschungsgeldern und Wissenschaftskooperation mit autoritären Regimen aussehen kann. Auch wenn wir den Blick nach Ungarn richten, lässt sich eine beunruhigende Entwicklung in Bezug auf zunehmende staatliche Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit feststellen. Von solchen Bedrohungen sind wir in Deutschland zwar noch weit entfernt – trotzdem lohnt sich der Blick über den Tellerrand, um einerseits die Entwicklungen an deutschen Hochschulen ins Verhältnis zu rücken und andererseits möglichen tatsächlichen Gefahren für die Wissenschaftsfreiheit vorzubeugen.

Die Universität als Arena des Generationenkonflikts und Risikozone für alle

Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut. In Deutschland ist sie nicht nur verfassungsmäßig garantiert, sie ist auch gelebte Realität. Richtig ist: Um diese Realität zu bewahren, müssen Wissenschaftler:innen über alle Fachrichtungen hinweg für sie eintreten. Aber die Sorge um die Freiheit der Wissenschaft darf nicht zum Schutzschild gegen Argumente der zu Recht um ihre Existenz und Teilhabe besorgten jüngeren Generationen werden. Freiheit der Lehre bedeutet, dass Dozierende innerhalb des grundgesetzlichen Rahmens alles lehren können, was sie für wissenschaftlich wichtig und richtig erachten. Sie bedeutet jedoch nicht, dass die Studierenden diese Lehrinhalte kritiklos hinnehmen müssen. Auch das ist Aufklärung. Ausgestattet mit Beamtenprivilegien und mit dem Deutschen Hochschulverband im Rücken sollte es Professor:innen möglich sein, den Forderungen der jüngeren Generationen gelassen zuzuhören, auch wenn deren Ton bisweilen schrill ist oder sie gar als Shitstorm daherkommen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und den damit verbundenen Schwierigkeiten für unsere Demokratie hat die Universität als Ort der Auseinandersetzung in diesem Generationenkonflikt eine herausragende gesellschaftliche und politische Bedeutung. Wer die Argumente der jungen Generationen ernstnimmt, stärkt damit die Demokratie – und nichts schützt die Freiheit der Wissenschaft besser.


An abridged version of this commentary appeared in the print version of DIE ZEIT on October 212021.