Gescheiterte Staaten: Fünf Thesen auf dem Prüfstand
Die Zahl der Länder, in denen die geordnete Staatlichkeit zusammenbricht, scheint dynamisch zu wachsen. Bedrohen „failed states“ den globalen Frieden und die Sicherheit Deutschlands? Gibt es Gegenmittel? Fünf Thesen auf dem Prüfstand.
„Die Liste gescheiterter Staaten wird immer länger“
Nicht unbedingt. Die Anzahl vollständig gescheiterter Staaten ist überschaubar. Völkerrechtlich gesehen ist ein Staat gescheitert, wenn die Staatsgewalt weitgehend zerfallen ist und ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen kann. Aktuelle Beispiele sind Syrien und der Jemen – aber selbst dort werden trotz Krieges grundlegende staatliche Funktionen in Teilen des Staatsgebiets erfüllt.
Ohnehin ist die pauschale Diagnose des gescheiterten Staates seit mehr als einem Jahrzehnt aus der Mode. Noch 2001 diente sie als Begründung für die Intervention in Afghanistan, an deren Ende ein liberaler und demokratischer Staat stehen sollte. Fast 20 Jahre später ist dieser Versuch endgültig fehlgeschlagen. Neben maßloser Selbstüberschätzung fehlte es an einem Verständnis für die vielfältigen Herausforderungen politischer Ordnung an Orten, an denen Mangel und Gewalt verbreiteter sind als Wohlstand.
Inzwischen gelten diese Orte als fragil. Und die fragilsten Räume – manchmal ganze Staaten, meist Teilgebiete oder Regionen, in denen es an Teilaspekten von Staatlichkeit mangelt – sind weder unwiederbringlich gescheitert noch warten sie auf Rettung aus dem Westen.
Fragilität wird als Gegenteil staatlicher Stabilität auf einem Kontinuum zwischen einem gut funktionierenden und komplett abwesenden Staat beschrieben. Dabei ist jeder fragile Staat auf seine eigene Weise fragil, wie es der Weltbank-Experte Michael Woolcock in Anlehnung an Tolstoi nennt. Während in einem Staat die Autorität des Staatsapparats gering ist, ist sie anderswo stark. Dort mangelt es aber womöglich an Legitimität und Akzeptanz der Regierung oder an Versorgungskapazitäten – ganz zu schweigen von Unterschieden in einzelnen Landesteilen.
Auf globalen Ranglisten wie dem Fragile States Index werden Staaten anhand eines Querschnitts mehrerer Symptome von Fragilität eingeordnet. Die Türkei und Tansania etwa sind sehr ungleiche Tabellennachbarn: Sie haben ein ähnliches Fragilitätsniveau, das sich aber in Ursachen und Auswirkungen stark unterscheidet. So ist in Tansania vor allem die geringe staatliche Kapazität das Problem, während der Türkei aufgrund von staatlicher Repression wenig Legitimität attestiert wird.
Die Bundesregierung unterscheidet mehrere „Fragilitätsprofile“ auf Grundlage der Kategorien Autorität, Legitimität und Kapazität. Die OECD analysiert Fragilität in den Dimensionen Politik, Wirtschaft, Soziales, Umwelt und Sicherheit.
Seit 2011 spricht die Weltbank von fragilen „Situationen“ statt von fragilen oder gescheiterten Staaten. Und seit 2020 konzentriert sie sich auf Situationen, die von gewaltsam ausgetragenen Konflikten oder von hoher sozialer und institutioneller Fragilität gekennzeichnet sind.
Entwicklungspolitisch ist das durchaus sinnvoll. Laut Schätzungen der Weltbank wird im Jahr 2030 mindestens die Hälfte aller von Armut betroffenen Menschen in diesen Regionen leben, die nicht immer Staatsgrenzen entsprechen. Auch das kürzlich vom US-Kongress verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung globaler Fragilität verweist auf bestehende Ranglisten für Fragilität und Konfliktrisiken, betont aber, dass man noch nach besseren Analysen der Ursachen von Staatszerfall und Gewalt suche.
Eine solche Differenzierung führt zu der richtigen Erkenntnis, dass es in vielen Ländern Elemente von Fragilität gibt. Diese reichen von der Herrschaft krimineller Banden oder Rebellengruppen in einzelnen Landesteilen bis hin zu Armut und fehlender staatlicher Grundversorgung in Ländern, deren Regierungen ansonsten fest im Sattel sitzen. Das sagt aber nichts darüber aus, ob die Welt insgesamt instabiler geworden ist.
Um einschätzen zu können, wie hoch das Risiko von Kriegen und Staatszerfall ist, und um daraus brauchbare Handlungsempfehlungen abzuleiten, bedarf es einer Kombination – einer Mischung aus Experteneinschätzungen, Szenarien und vorausschauenden Datenanalysen mit präziser Lokalisierung innerhalb eines Staatsgebiets. Die Analysekapazitäten der Bundesregierung und der EU entwickeln sich in diese Richtung, sind aber noch ausbaufähig.
„Starke Staaten bedeuten Sicherheit und Frieden“
Irrtum. Ohne den Schutz der Staatsgewalt sind Menschen besonders verwundbar, doch oft ist die Staatsgewalt die größte Gefahr im eigenen Land. Gut organisierte Staatsapparate können Repression und schwere Menschenrechtsverletzungen gegen politische Gegner und Minderheiten bis hin zum Völkermord besonders effektiv umsetzen.
Ein moderner Sicherheitsbegriff denkt daher die Unversehrtheit von Menschen und ihren Rechten mit, anstatt sich auf die Sicherheit von Staaten zu beschränken. Innerstaatliche Konflikte haben das Potenzial zur Eskalation bis hin zur Destabilisierung internationaler Ordnung. Der Krieg in Syrien zeigt, dass die Sicherheitsprobleme der Menschen vor Ort die Nachbarstaaten und Europa direkt betreffen.
Durch ein umfassendes Sicherheitsverständnis wird klar, dass Gefahr für Leib und Leben nicht vornehmlich von bewaffneten Konflikten ausgeht. Neben der staatlichen Repression ist die Zahl der Opfer durch Gewaltkriminalität weltweit um ein Vielfaches höher als durch bewaffnete Konflikte. Auch Umschlagplätze für den illegalen Handel mit Waffen, Betäubungsmitteln und Menschen sowie die Ausgangspunkte für Cyber-Kriminalität liegen in Staaten, die als vollwertig anerkannte Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft große Autorität genießen.
In einem fragilen Staat fehlt es an der Durchsetzung öffentlicher Ordnung und der Bereitstellung grundlegender Versorgungsleistungen für die Bevölkerung. Versorgungsprobleme pauschal auf die Abwesenheit eines starken Staates zu schieben, ist allerdings naiv. Essenzielle Versorgungsleistungen wie Infrastruktur und öffentliche Sicherheit werden oft erfolgreich von nichtstaatlichen Akteuren übernommen – im Einverständnis mit der Zentralregierung.
In Bangladesch etwa ließ der Zentralstaat Nichtregierungsorganisationen beim Ausbau von Bildungseinrichtungen quasi freie Hand und schrieb damit eine entwicklungspolitische Erfolgsgeschichte. Da Probleme wie mangelnde Schulbildung für Mädchen im Grundschulalter Risikofaktoren für Gewaltkonflikte sind, sank dank dieser Entwicklung gleichzeitig das Konfliktrisiko im Land. Wann und ob eine faire Bereitstellung von Bildung gelingt, liegt nicht allein an staatlicher Kapazität.
Auch und gerade Regierungen reicher Staaten können oder wollen nicht immer die ganze Verantwortung für die öffentliche Versorgung und für die Gewährleistung von Sicherheit erfüllen. Das zeigt sich in Ausnahmesituationen wie Naturkatastrophen oder bei Pandemien, aber auch in Bezug auf strukturell unterversorgte Bevölkerungsgruppen. So werden Polizeifunktionen an private Sicherheitsfirmen ausgelagert, der private Waffenbesitz wird unzureichend reguliert und kritische Infrastruktur wie Schienennetze, Energie und Krankenhäuser bleiben unterfinanziert.
„Gescheiterte Staaten sind eine Gefahr für Deutschland“
Manchmal schon. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 waren die USA und ihre Verbündeten davon überzeugt, gescheiterte Staaten gefährdeten ihre Sicherheit, da sie ideale Verstecke für Terroristen sind. Dieses Narrativ hat sich schnell verbreitet und hält sich hartnäckig. Tatsächlich aber kommt ideologische, finanzielle und logistische Unterstützung für Terroristen aus reichen, funktionierenden Staaten.
Richtig ist, dass nach einem Zusammenbruch staatlicher Strukturen rechtsfreie Räume entstehen, in denen unterschiedliche Gruppen konkurrieren – oft mit Waffengewalt. So haben etwa die regionalen Ableger des „Islamischen Staates“ in Ländern wie dem Irak, Syrien oder der Sahelzone Terroranschläge verübt. Damit sind instabile Staaten zunächst eine Gefahr für die Menschen, die dort leben und von Gewalt, Kriminalität und Rechtlosigkeit betroffen sind.
Zwar verbreiten die Gewaltprediger ihre Ideologie über YouTube und Messenger-Dienste global und versuchen damit, Anhänger für Anschläge in Europa zu motivieren. Allerdings ist nur ein Bruchteil der Opfer von Gewalt weltweit Opfer terroristischer Anschläge. Und die Mehrzahl der Täter gerade in Europa sind Europäer mit unterschiedlichster ideologischer Motivation.
Der Zusammenbruch staatlicher Strukturen gilt dennoch als eine der größten globalen außen- und sicherheitspolitischen Bedrohungen. Bewaffnete Gewalt birgt Risiken für eine Ausweitung auf Nachbarregionen und die Eskalation bis hin zum Großkonflikt. Ob es jedoch dazu kommt, hängt maßgeblich vom Verhalten anderer, nicht gescheiterter Staaten ab. Denn ein Großkonflikt entsteht, wenn sich andere Akteure einmischen und die internationale Gemeinschaft keine Einigung zur Friedenssicherung erzielt – wie etwa in den Konflikten in Syrien und im Jemen.
Werden größere Gebiete nicht mehr effektiv regiert, erschwert das zudem die Lösung sicherheitsrelevanter globaler Probleme, sei es eine drohende Ebola-Ausbreitung, der Klimawandel oder die Durchsetzung von Rüstungskontrollverträgen. Das internationale System basiert auf Staaten als Ordnungseinheit, und in der Diplomatie sind Staaten natürliche Gegenüber. Ohne anerkannte Regierungen fehlen legitimierte Ansprechpartner. Verhandlungen und Friedenslösungen sind zudem ungleich schwieriger, wenn viele Parteien am Tisch sitzen, deren Beziehungen untereinander ständiger Zankapfel sind.
Begrenzte Durchsetzungsfähigkeit des Staates bedeutet allerdings nicht zwangsläufig Chaos. Somalia etwa gilt als einer der fragilsten Staaten der Welt. Obwohl die Kontrolle des Zentralstaats über das gesamte Staatsgebiet und ‑volk gescheitert ist, hält der international nicht anerkannte Teilstaat Somaliland erfolgreich demokratische Wahlen ab und kontrolliert die Situation auf seinem Territorium weitestgehend. Die grundlegende Versorgung der Bevölkerung wird durch Hilfsorganisationen unterstützt, funktioniert aber in Somaliland wesentlich besser als in anderen Landesteilen.
Bei der Einschätzung von Gefahren ist daher ein genauerer Blick auf Unterschiede innerhalb eines Staates wichtig. Mit ihrem strengen Fokus auf anerkannte staatliche Strukturen steht sich die internationale Gemeinschaft beim Versuch einer effektiveren Problemlösung zuweilen selbst im Weg.
„Der Westen ist schuld an gescheiterten Staaten“
In der Tat trägt er oft eine Mitschuld. Besonders beim Blick auf den afrikanischen Kontinent lässt sich kaum bestreiten, dass jahrhundertelange Kolonialherrschaft und Ausbeutung Gründe für instabile Staaten sind. Am Reißbrett gezogene Grenzlinien, die gewachsene Siedlungsgebiete sinnlos durchtrennen, die Einteilung von Menschen nach pseudowissenschaftlichen Kriterien in ethnische Gruppen und deren politische Instrumentalisierung erschweren bis heute ein friedliches Zusammenleben.
Der Kolonialstaat in Afrika war auf die Ausbeutung von Ressourcen für Kolonialherrscher ausgelegt. Verwaltungsstrukturen dienten der Unterdrückung, niemals legitimer Repräsentation oder gar Partizipation. Funktionierende und legitime lokale Institutionen wurden zerstört. Bis heute gehen Unterschiede in der Stabilität von Staaten auf verschiedene Arten der kolonialen Herrschaft zurück.
Auch nach der formalen Unabhängigkeit bestehen weiterhin Abhängigkeiten vom Westen.Westafrikanische Länder etwa sind noch heute damit beschäftigt, den Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich in ihrer Geld- und Finanzpolitik zu beschränken. Zudem unterstützen westliche Staaten in der Hoffnung auf Stabilität autokratische Regime, die die Herausbildung einer freien und demokratischen Gesellschaft verhindern und staatliche Ressourcen ausbeuten.
Waffen, die in Bürgerkriegen und zur staatlichen Repression verwendet werden, kommen auch aus Deutschland. Und schließlich ist es der Westen, der Sklaverei und Kriegsökonomien begünstigt und wirtschaftliche Entwicklung behindert – durch die Handels- und Agrarpolitik der EU, durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Diamanten und seltener Erden über westliche Handelsnetzwerke und Firmen sowie generell durch sein Konsumverhalten.
Natürlich sind die Probleme schwacher Staaten zum großen Teil hausgemacht. Während internationale Finanzinstitutionen und Geberstaaten den Gestaltungsspielraum für unabhängiges Wirtschaften einschränken, spielt der Liberalisierungsdruck in die Hände kleptokratischer Eliten, die eine Investition staatlicher Einnahmen in Infrastruktur und Versorgungsleistungen für die Bevölkerung verhindern. Anstatt diesen Eliten die Geldwäsche ihrer Millionen in europäischen Finanzzentren zu erschweren, lässt Europa sie gewähren – zum Nachteil der Bevölkerung vor Ort. Man kritisiert die Korruption zwar formal scharf, tut sie aber letztlich doch als Defekt nichtwestlicher Gesellschaften ab.
Und es sind nicht nur ehemalige westliche Kolonialmächte, die schwache Staaten zu ihrem Vorteil ausnutzen. China, Russland oder die Vereinigten Arabischen Emirate profitieren ebenfalls von Geldwäsche, fehlender Regulierung bei der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und dem florierenden Geschäft mit Rüstungsgütern – und verhindern so globale Lösungen dieser Probleme.
Während der Westen weitgehend ratlos vor Gewalt und Staatsversagen als Fluchtursachen steht, ziehen grobschlächtige westliche Versuche der Migrationskontrolle und Terrorbekämpfung neue Gräben quer durch historisch gewachsene grenzübergreifende Wirtschaftssysteme. Statt also mehr Wohlstand zu schaffen und damit Fluchtursachen zu reduzieren, wird Flucht bekämpft, werden Armut und Repression gefördert – und auf diese Weise trägt man zur Schaffung neuer Fluchtursachen bei.
Der Westen ist also weit davon entfernt, konfliktsensibel und geschichtsbewusst zu handeln und Frieden und Entwicklung in instabilen Regionen bestmöglich zu unterstützen.
„Gescheiterten Staaten kann man nicht helfen“
Doch – aber man kann auch großen Schaden anrichten. Afghanistan steht sinnbildlich für all die Länder, in denen westliche Interventen ihren Einfluss auf die Geschehnisse, ihr Verständnis der Situation vor Ort und die eigene Legitimität in katastrophaler Weise überschätzt haben. Wer sich wie ein Elefant im Porzellanladen verhält, muss sich nicht wundern, wenn er vor allem Scherben hinterlässt.
Angesichts des Risikos, dass die Gewalt eskaliert, die Zahl der Flüchtenden steigt und vor dem Hintergrund globaler Verflechtungen ist Nichtstun allerdings kaum eine Option. Deutschland und seine Verbündeten wollen Kriege in der Nachbarschaft zu Recht beenden, und sie möchten dazu beitragen, dass internationales Recht eingehalten wird – in Bezug auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen oder auf die Tötung von Zivilisten.
Ist ein Staat erst einmal zerfallen, dann ist der Weg zurück zu nachhaltig funktionierenden Institutionen lang. Deutschland nach 1945, Korea oder Vietnam, Bosnien-Herzegowina oder der Kosovo, Liberia oder Sierra Leone zeigen aber, dass (Wieder-)Aufbau unter unterschiedlichsten Bedingungen möglich ist. Die Aufteilung der Welt in die heutigen Staaten war nicht schon immer da und wird nicht für immer bleiben. Mit der Gründung der Vereinten Nationen sollten Streitigkeiten über staatliche Unversehrtheit nur noch friedlich gelöst werden. Doch die Realität der Nachkriegszeit ist voll von Beispielen für staatliche Zerstörung und Wiederaufbau.
In akuten Krisen helfen humanitäre Unterstützung und diplomatische Vermittlung. Nach Naturkatastrophen und Konflikten ist finanzielle Hilfe aus internationalen Fonds nötig. Wirtschaftliche Zusammenarbeit fördert die Wiedereingliederung in ein globales Wirtschafts- und Handelssystem. Beim Kampf gegen Krankheiten wie Malaria profitieren Staaten durch gezielte Unterstützung von außen. Ersetzen externe Akteure Versorgungsleistungen aber dauerhaft, kann das langfristig bestehende Strukturen schwächen.
Die Bundesregierung versucht bei Krisen, einem drohenden Zerfall staatlicher Strukturen mit Stabilisierungsmaßnahmen entgegenzuwirken. Zivile, polizeiliche und militärische Mittel sollen eine schnelle und sichtbare Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bevölkerung erzielen, damit das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Regierung vor Ort steigt. In diesem Sinne werden etwa der Sicherheitssektor im Irak und in Mali durch Ausrüstung, Material und Training unterstützt. Laut Bundesregierung sollen dadurch langfristige Entwicklung ermöglicht sowie die Voraussetzung für eine Aussöhnung von Konfliktparteien und letztlich ein Fundament für demokratische Politik geschaffen werden. Ob das tatsächlich funktioniert, ist allerdings mangels detaillierter Studien bisher nicht belegt.
Die Grundversorgung gefährdeter Menschen zu sichern, kann Zeit und politisches Kapital schaffen, um zu einer Lösung der zugrundeliegenden Differenzen beizutragen – mehr nicht. Strukturelle Probleme wie die ungerechte Verteilung von Ressourcen, Korruption oder der Ausschluss von Minderheiten aus politischen Prozessen lassen sich mit einzelnen Instrumenten der Stabilisierung nicht lösen – und die Unterstützung von Konfliktparteien durch Großmächte wie in Syrien schon gar nicht. Deshalb setzen internationale Organisationen, EU und Bundesregierung verstärkt auf die Prävention von Konflikten. Neben diplomatischen Bemühungen möchte man die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit, die sogenannte „Resilienz“, langfristig erhöhen – durch demokratische Beteiligung und durch anpassungsfähige Institutionen.
Es ist ein Balanceakt mit zahlreichen Zielkonflikten, der da zu leisten ist: Stabilisierung, Respektierung lokal gewachsener Strukturen und gleichzeitig die Förderung von Demokratie und Menschenrechten als Grundlage für nachhaltigen Frieden.
Hinzu kommt, dass der Nachweis eines erfolgreichen europäischen Engagements zur Vermeidung von Gewaltkonflikten schwierig zu führen ist. Wo Gewalt ausbricht, findet sich schnell eine oft zu einfache Erklärung. Wo Gewalt vermieden wurde, passiert nichts: Prävention bleibt unsichtbar. Investitionen in Prävention bringen also kaum greifbare und schon gar keine schnellen Gewinne, sondern erfordern genaue Beobachtung, Toleranz für Komplexität und vor allem Geduld. Um nachzuvollziehen, was unter anderen Bedingungen passiert wäre, müsste man komplexe Prozesse nachvollziehen und dazu mit kontrafaktischen Szenarien und Simulationen arbeiten. Hierfür mangelt es in der Regel an einer belastbaren empirischen Grundlage.
Trotz begrenzten Einflusses von außen ist die mögliche Rendite für Investitionen in Prävention groß. Denn sie ist wesentlich günstiger als die Summe von humanitärer Hilfe, Stabilisierung und Wiederaufbau – ganz zu schweigen von der moralischen Verantwortung.
This commentary was originally published in the May/June 2020 edition of Internationale Politik.