Amerika abwickeln
Ewige Erneuerung
Der Abgesang der Weltmacht USA ist jedoch keineswegs ein neues Phänomen. Immer wieder tönen die ‚Kassandrarufe‘ der so genannten „Decline“-isten, und immer wieder erweisen sie sich als voreilig – so halten die „Anti-Decline“-isten dagegen. Zu ihnen zählt auch der Mitherausgeber der Zeit und Stanford-Dozent Josef Joffe mit seinem jüngsten Buch „The Myth of American Decline“.
Joffes Buch ist ein kompaktes Plädoyer für die ewige Anpassungs- und Erneuerungsfähigkeit Amerikas. Seine Kernthese: Die amerikanische Politik bewege sich in Zyklen. Auf den angekündigten Niedergang und die damit verbundenen Selbstzweifel Amerikas folgten stets die Umkehr und ein neuer Aufstieg. In jedem dieser Zyklen liege durchaus auch ein Antrieb Amerikas, sich neu zu erfinden und aus den Krisen zu hieven.
Seit 1945 beobachtet er fünf solcher Zyklen: Zuerst machte der Sputnik-Schock Ende der fünfziger Jahre Amerika glauben, es verlöre den Wettlauf um die Vorherrschaft im All und den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion. In den sechziger Jahren folgten der Vietnam-Krieg, die Ölkrise in den Siebzigern und die Furcht vor einem wirtschaftlich boomenden Japan in den Achtzigern. Nach einer Pause während des unipolaren Momentums Amerikas in den Neunzigern meldeten sich die düsteren Prophezeiungen nach 2000 mit dem Aufstieg Chinas und der großen Rezession als „Niedergang 5.0“ zurück.
China aber ist keine Gefahr für die USA – davon ist Joffe überzeugt. Bald schon werde China ein ähnliches Schicksal ereilen wie Japan. Die zweistelligen Wachstumszahlen seien schon auf einstellige geschrumpft. Zudem seien die USA China in etlichen Belangen eindeutig überlegen. Vor allem militärisch, aber auch durch ihre Innovationskraft in Wirtschaft und Wissenschaft, ihr hervorragendes Bildungssystem und eine durch Immigration beständig wachsende Bevölkerung.
Eine der Stärken von Joffes Buch ist, den China-Hype kritisch zu hinterfragen. Allerdings würde man sich als Leser doch zuweilen eine nuanciertere innergesellschaftliche Analyse Chinas sowie der anderen asiatischen „Tiger“ wünschen. Joffe räumt immerhin ein, dass die USA kein unangefochtener Hegemon seien. Jedoch seien sie eine „Decathlon power“, eine „Zehnkämpfer-Macht“, die zwar nicht überall die Erste ist, aber am Ende als Gesamtsieger auf dem Podest steht. Mit seiner These, Amerika werde trotz des Aufstiegs anderer Mächte und wiederkehrender Krisen seine Vormachtstellung aufrechterhalten, reiht sich Joffe in eine Tradition amerikanischer Autoren wie Joseph Nye, John Ikenberry und Henry Kissinger ein.
Was in Joffes Analyse indes fehlt, ist eine Einschätzung, wie Amerika neuen globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder steigender Armut in Kooperation mit anderen Mächten wie China begegnen kann. Zudem vernachlässigt er die enge Verwobenheit der amerikanischen Volkswirtschaft mit der chinesischen. Ein Abstieg Chinas wird die USA zweifelsohne hart treffen.
Kriegerische Geschichte
Auch Alexander Emmerich und Phi¬lipp Gassert glauben, dass die USA dank ihrer Größe, ihrer Bevölkerungsdiversität und ihres Wachstums auch in einer „Welt der Giganten wie China und Indien ihre Bedeutung nicht verlieren“ würden. Seit ihrer Unabhängigkeit war die älteste Demokratie der Welt immer wieder in militärische Konflikte verwickelt. Auf nur 260 Seiten fassen die Autoren diese Kriege zusammen – zugegebenermaßen ein ehrgeiziges Unterfangen.
Und so bieten Emmerich und Gassert denn auch eher einen Überblick denn eine ausführliche Analyse der verschiedenen Kriege und ihrer Folgen. Geschrieben ist das Buch sachlich und verständlich. Die Form des Überblicks ermöglicht es den Autoren, wiederkehrende Muster in der amerikanischen Außenpolitik aufzuzeigen, die in einer allzu detaillierten Analyse wahrscheinlich verloren gingen.
Interessant ist ihre Konzentration auf das in der amerikanischen Politik wiederkehrende Schwanken zwischen Isolationismus und Internationalismus. Eine Zäsur erfuhr die bis dahin sehr nach innen gerichtete US-Politik, so die Autoren, mit dem Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg unter Woodrow Wilson. Hier traten die USA nicht mehr in einen Krieg ein, „um ihr eigenes Staatsgebiet zu vergrößern oder die eigene Nation zu konsolidieren“. Für Wilson „ging es darum, in welche Richtung die Menschheit sich weiterentwickeln würde“, heißt es bei Emmerich und Gassert.
Eine der Stärken dieses Buches ist es, die inneren Konflikte in den USA zu beleuchten. Emmerich und Gassert verweisen darauf, dass „Amerikas Kriege […] stets auch Kriege im Inneren“ waren, mit heftigen Kontroversen, die weit über bloße Rhetorik hinausgingen. Mit Ausnahme eines kurzen Aufbäumens des Isolationismus im Gefolge des Vietnam-Krieges blieben die USA einer hochgradig internationalistischen Politik verpflichtet. Das hatte auch ein „krebsartiges Wachsen“ der nationalen Sicherheitsstrukturen zu einer Art Staat im Staat während des Kalten Krieges zur Folge. Dessen weitere Expansion infolge des Krieges gegen den Terror bedroht inzwischen die demokratischen Fundamente der Nation.
Zu diesen inneren Konfliktherden gehören auch die Geschichten der Opfer dieser Kriege innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Für die Ureinwohner, die Afroamerikaner oder die hispanischen Einwanderer galt das sich aus der amerikanischen Verfassung ergebende Versprechen der Gleichheit aller Bürger lange Zeit nicht, und zum Teil gilt es immer noch nicht, wie die Autoren eindrucksvoll beschreiben.
Es sind dies die Faktoren, die Josef Joffe in seinem leidenschaftlichen Plädoyer gegen eine pessimistische Sicht auf Amerika allzu sehr vernachlässigt. Zwar ist er der Ansicht, dass „nur die USA selbst“ sich „zu Fall bringen“ könnten. Auf die innere Verfasstheit des Landes geht er jedoch nur am Rande ein. Dabei gibt es hinreichend Faktoren, die den Leser an seiner etwas vereinfachten Darstellung zweifeln lassen: eine wachsende gesellschaftliche Ungleichheit, marode Sozialsysteme, eine Schuldenkrise, eine von sich gegenseitig blockierenden Lagern in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkte Regierung sowie das unkontrollierte Regime der Geheimdienste und des Militärs.
Die Gesellschaft zerfällt
Hier knüpft George Packers brilliantes Buch vom Verfall der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen der USA an. Packer beginnt seine Erzählung im Jahr 1978. Es ist die Zeit der amerikanischen Ölkrise und des Beginns der Deindustrialisierung der USA, die zuerst die Stahlindustrie und nach und nach die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft ziehen wird. Diese Abwicklung bringt Gewinner hervor, vor allem aber Verlierer. Von diesen Gewinnern und Verlierern erzählt Packer in 14 packenden Einzelporträts eines Amerikas, in dem sich innergesellschaftlicher Zusammenhalt und soziale Auffangnetze immer weiter auflösen.
Wer nach einer politischen, auf Zahlen und Fakten beruhenden Analyse sucht, wird bei Packer nicht fündig. Stattdessen lässt der Autor die Geschichten seiner Protagonisten sprechen, was dem Buch einen romanhaften Charakter gibt. Ihre Schicksale beschreibt er mit scharfsinnigem und kritischem Blick, im Ton bleibt er stets nüchtern. Durch die scheinbar emotionslose Beschreibung lässt er dem Leser gleichsam Raum, sich selbst zu empören.
Die von Packer beschriebenen Gewinner gehören zu jenem Bruchteil der Gesellschaft, für den sich der „American dream“ noch erfüllt hat. Zu ihnen zählen etwa der Wal-Mart- Gründer Sam Walton, dessen Familie so viel Geld besitzt wie die unteren 30 Prozent der Amerikaner zusammen. Oder Superstars wie Oprah Winfrey oder Jay‑Z. Und er schildert Aufstiegsgeschichten von Politikern und Unternehmern, wie jene des ehemaligen demokratischen Finanzministers und späteren Direktors des Citigroup-Finanzkonzerns Robert Rubin, der republikanischen Politiker Newt Gringich und Colin Powell oder des Silicon-Valley-Investors Peter Thiel.
Diesen Figuren stellt Packer seine Porträts aus der Mittel- und Unterschicht gegenüber. Etwa Tammy Thomas aus Ohio. Als sie ihren Job als Fabrikarbeiterin verliert, beginnt die alleinerziehende Mutter dreier Kinder von vorn und schafft es, nach einem Studium als Sozialarbeiterin anzufangen. Oder der Unternehmer Dean Price aus North Carolina, der mit seiner Tankstelle an der Übermacht globaler Ölkonzerne scheitert. Oder die arbeitslosen Hartzells aus der einst vom Immobilienboom profitierenden Stadt Tampa, die ihre Rechnungen kaum bezahlen können, geschweige denn die Behandlung ihrer an Knochenkrebs erkrankten Tochter.
George Packer zeichnet ein Amerika, in dem die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht. Die gesellschaftlichen Institutionen erodieren, der Zusammenhalt löst sich auf. Es bröckeln nicht nur Institutionen und Bauwerke, es zerbröckeln auch Manieren und Moral in den Hinterzimmern der Politik in Washington und in den New Yorker Handelsbüros. „Als diese Abwicklung der Normen begann, auf denen die Nützlichkeit der alten Institutionen beruhte“, habe sich die „Roosevelt Republic“ vollständig aufgelöst: „Die Lücke“, die dadurch entstanden sei, „schloss die Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.“
Mit seiner Geschichte vom inneren Zerfall zeichnet Packer ein weit pessimistischeres Bild als Joffe in seiner geopolitischen oder Emmerich und Gassert in ihrer historischen Analyse. Abwicklungen sind in der amerikanischen Gesellschaft nichts Neues, schreibt Packer. Doch was den Umbruch dieses Mal so bedrohlich macht, ist die Zersetzung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. So schreibt Packer seine ganz eigene Version vom Niedergang Amerikas, und zwar von innen. Oder, wie es bei Packer heißt: „Gewinnen und verlieren, das ist das große amerikanische Spiel, und in der Abwicklung ist der Gewinn größer als je zuvor, die Gewinner entschweben wie riesige Luftschiffe, und die Verlierer fallen tiefer und tiefer, und manche kommen niemals unten an.“
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This text originally appeared in the March/April 2015 issue of Internationale Politik.