Ein Balanceakt für den ersten post-transatlantischen Kanzler

Am Abend seines Wahlsiegs sagte Bundeskanzler Friedrich Merz, dass den USA unter Präsident Donald Trump das „Schicksal Europas weitgehend gleichgültig“ sei und dass man Europa so stärken müsse, „dass wir Schritt für Schritt Unabhängigkeit erreichen von den USA“. Am Donnerstag empfängt Trump Merz zum Antrittsbesuch in Washington. Der Kanzler steht dabei vor einer Doppelaufgabe: nicht nur deutsche, sondern auch europäische Interessen entschlossen zu vertreten und gleichzeitig ohne Illusionen ein konstruktives Verhältnis zu Trump aufzubauen.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dem eingefleischten Transatlantiker Friedrich Merz, ehemals Vorsitzender der Atlantik-Brücke, die Rolle als Deutschlands erster post-transatlantischer Kanzler zufällt. Sicher: Gerhard Schröder stellte sich 2003 gegen US-Präsident George W. Bush und den Irak-Krieg, aber er tat dies mit Netz und doppeltem Boden. Er konnte sich gewiss sein, dass die USA weiter für Europas Sicherheit sorgen würden, egal wie heftig er gegen Washingtons fatalen Irak-Kreuzzug wetterte.
Angela Merkel sprach in Trumps erster Amtszeit im Bierzelt von Trudering davon, dass „die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, ein Stück vorbei“ seien. Aber Taten ließ sie dem nicht folgen. Enger als jeder andere Kanzler suchte Olaf Scholz den Schulterschluss mit Joe Biden. Merz hat nun die wenig beneidenswerte Aufgabe, sich gegen einen US-Präsidenten zu behaupten, der einen Handelskrieg gegen Europa begonnen hat und die Nato-Partner mitten im Krieg Russlands gegen die Ukraine allein zu lassen droht, während Vizepräsident J.D. Vance offen Sympathien für die rechtsextreme AfD zeigt.
Trump wettert verlässlich gegen deutsches Trittbrettfahrertum bei den Verteidigungsausgaben und gegen Handelsbilanzüberschüsse. Aber er ist bislang weniger als Kulturkrieger aufgefallen, der Deutschland wie Außenminister Marco Rubio als „verkappte Tyrannei“ bezeichnet, weil es als wehrhafte Demokratie gegen Verfassungsfeinde vorgeht. Je mehr es Merz gelingt, persönlich ein gutes Verhältnis zu Trump aufzubauen, desto weniger wird Trumps Hofstaat den Präsidenten mit antideutscher Propaganda füttern. In Sachen Verteidigungsausgaben gehört zur Wahrheit dazu, dass es Trump zu verdanken ist, dass Deutschland und Europa jetzt endlich seit mehr als einem Jahrzehnt überfällige Investitionen in die eigenen Fähigkeiten vornehmen.
Es ist ein taktisch kluger Schachzug, dass sich die deutsche Regierung auf das von Trump ausgegebene Fünf-Prozent-Ziel für Ausgaben für die Sicherheit eingelassen hat, auf das Nato-Generalsekretär Mark Rutte alle Bündnispartner einschwört. Das kann Trump bei Merz’ Besuch triumphal aufs eigene Konto verbuchen. Gleichzeitig muss Merz versuchen, Trump zu verpflichten auf einen verlässlichen Fünf- bis Zehn-Jahres-Plan für die Verantwortungsübergabe bei kritischen Fähigkeiten, die die USA aktuell in Europa militärisch bereitstellen, etwa in den Bereichen Aufklärung, Logistik oder strategischer Lufttransport. Nur so lassen sich Sicherheitslücken verhindern, die durch einen überhasteten US-Rückzug entstehen würden.
Mit Blick auf die Ukraine hat Merz bereits die Erfahrung gemacht, dass auf Trump etwa bei Sanktionsdrohungen gegenüber Putin kein Verlass ist. Umso wichtiger ist es, dem US-Präsidenten zu vermitteln, dass Europa die Ukraine nicht fallen lassen wird – und auch bereit ist, für US-Waffenlieferungen an die Ukraine in die eigene Tasche zu greifen. Es wäre gut, wenn Merz Zeit fände für den Dialog mit führenden Vertretern beider US-Parteien, die aktuell schärfere Sanktionen gegen Russland vorbereiten.
Im Handelskrieg sollte Merz die Bemühungen der EU-Kommission um eine Verhandlungslösung unterstützen und gleichzeitig deutlich machen, dass Europa zu schmerzlichen Gegenmaßnahmen bereit ist. Merz sollte die Zusammenarbeit anbieten, wo Pekings autoritärer Staatskapitalismus US- und EU-Interessen gleichermaßen bedroht. Merz sollte Trump einen Dialog zu Fragen der Wirtschaftssicherheit und kritischen Technologien vorschlagen und betonen, dass es auch im deutschen Interesse ist, nicht durch Technologietransfer zur militärischen Modernisierung Chinas beizutragen. Der Kanzler sollte ferner deutlich machen, dass Trump durch sein aggressives Vorgehen nur die Pro-Peking-Kräfte in Europa stärkt. Doch selbst wenn Trump sich wider Erwarten bei einzelnen Themen kooperationsbereit zeigt: Es ist die harte Realität des post-transatlantischen Kanzlers Merz, dass er mit den europäischen Partnern ein Derisking sowohl gegenüber China als auch den USA vorantreiben muss.
Dieser Kommentar wurde ursprünglich am 5. Juni 2025 im Handelsblatt als Teil einer wiederkehrenden Kolumne über Geo-Ökonomie veröffentlicht.