Commentary

Warum Deutschlands Unterstützung für Israel nie bedingungslos sein darf

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IDF-Soldaten bereiten sich auf eine Bodenoffensive in Gaza vor.  | Photo: IDF Spokeperson's Unit/Wikimedia (CC BY-SA 2.0)
03 Jun 2025, 
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Stern

Diese Woche kommt der israelische Außenminister Gideon Saar nach Berlin. Der Besuch kommt an einem denkwürdigen Moment. Durch die klare Distanzierung von der Politik der Netanjahu-Regierung haben Bundeskanzler Friedrich Merz und Außenminister Johann Wadephul letzte Woche die Grundlage für eine dringend notwendige Neujustierung der israelpolitischen Diskussion geschaffen. Dazu sollte Deutschland Abschied nehmen von Angela Merkels Formel von Israels Sicherheit als deutscher Staatsräson. 

Diese wurde in den letzten Jahren zunehmend genutzt, um einer bedingungslosen Unterstützung der mit Rechtsextremisten durchsetzten Netanjahu-Regierung das Wort zu reden, obwohl nach einer jüngsten Umfrage 80 Prozent der Deutschen das Vorgehen Israels in Gaza nach den Massakern der Hamas gegen israelische Zivilisten am 7. Oktober 2023 für nicht gerechtfertigt halten. Statt der voraufklärerischen Staatsräson-Formel brauchen wir eine differenzierte Debatte, um das Einstehen für die Sicherheit Israels, eine Zwei-Staaten-Lösung sowie den dringend notwendigen Kampf gegen den Antisemitismus auf eine breitere Basis zu stellen.

Merkels Staatsräson im Schatten der Netanjahu-Regierung

Als Angela Merkel 2008 in einer Rede vor der Knesset die Staatsräson-Formel prägte, hieß der israelische Premierminister Ehud Olmert. Als Unterstützer der Zwei-Staaten-Lösung schlug Olmert dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde Abbas einen israelischen Rückzug aus über 90 Prozent der West Bank vor. Der Unterschied zur Netanjahu-Regierung könnte kaum größer sein. Im Westjordanland treibt Netanjahu den Siedlungsbau massiv voran und zerstört Lebensgrundlagen der Palästinenser. Der israelisch-palästinensische Dokumentarfilm No Other Land”, der auf der Berlinale ausgezeichnet wurde und einen Oscar gewann, legt von der Brutalität des Vorgehens Zeugnis ab.

Der israelische Verteidigungsminister Israel Katz macht aus seiner Verachtung für die von Deutschland vertretene Zwei-Staaten-Lösung keinen Hehl. An den französischen Präsidenten Macron gerichtet, der die Anerkennung eines palästinensischen Staates letzte Woche nicht nur als moralische Pflicht, sondern auch eine politische Notwendigkeit” bezeichnet hatte, sagte Katz im besetzten Westjordanland: Sie werden einen palästinensischen Staat auf dem Papier anerkennen – und wir werden einen jüdisch-israelischen Staat auf dem Boden bauen. Das Papier wird in den Mülleimer der Geschichte geworfen werden”. 

Schon zwei Tage nach den Hamas-Massakern und Geiselnahmen am 7. Oktober 2023 hatte Katz’ Amtsvorgänger Yoav Gallant mit Blick auf Gaza eine komplette Belagerung” angeordnet: Es wird keinen Strom, keine Nahrungsmittel, keinen Treibstoff gegeben, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend”. Klarer kann man Kriegsverbrechen kaum ankündigen. 

Trotzdem übte Bundeskanzler Olaf Scholz bestenfalls in homöopathischen Dosen Kritik an der Kriegsführung Netanjahus. Und wann immer Deutschland sich nicht hundertprozentig an die Seite Netanjahus stellte, forderte der israelische Botschafter Ron Prosor die bedingungslose Solidarität ein. Jetzt steht die Staatsräson auf dem Prüfstand – ohne Wenn und Aber”, erklärte Prosor etwa nach den Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Netanjahu und Gallant und kritisierte die wachsweichen Statements” seitens der deutschen Regierung. 

Ohne wenn und aber”: klarer kann man die Instrumentalisierung der Staatsräson für eine bedingungslose Unterstützung der Netanjahu-Regierung nicht formulieren. Dabei machen Stimmen aus Israel, wie Merkels damaliger Amtskollege Olmert, klar, dass es diese bedingungslose Unterstützung nicht geben sollte. Olmert sprach letzte Woche in einem Beitrag in der israelischen Zeitung Haaretz vom Abschlachten palästinischer Zivilisten” in der West Bank und sagte klar, dass Israel in Gaza Kriegsverbrechen begeht: Was wir in Gaza jetzt tun ist ein Krieg der Verwüstung: wahlloses, grenzenloses, grausames und kriminelles Töten von Zivilisten”.

Forderung nach realistischer und differenzierter Israel-Politik

Es ist nur folgerichtig, dass Bundeskanzler Merz letzte Woche klare Worte gegenüber der Regierung Netanjahu fand: Aber wenn Grenzen überschritten werden, wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, dann muss auch Deutschland, dann muss auch der deutsche Bundeskanzler dazu etwas sagen”. 

Noch deutlicher wurde Außenminister Wadephul. An die Regierung Netanjahu gerichtet sagte er, man lasse sich nicht unter Druck setzen” und in eine Zwangssolidarität” pressen: Unser hundertprozentiger Kampf gegen den Antisemitismus und unsere vollständige Unterstützung für das Existenzrecht und die Sicherheit des Staates Israel” dürfe nicht nicht instrumentalisiert werden” für das Einfordern der Unterstützung der israelischen Kampfführung im Gaza-Streifen. Eindrücklicher kann man dem Ohne wenn und aber” der Staatsräson-Doktrin in der Interpretation Prosors keine Absage erteilen.

Merz und Wadephuls Aufkündigung einer bedingungslosen Solidarität mit der Regierung Netanjahu hat nichts mit der Haltung derjenigen gemein, die sich dem imaginierten Zwang der deutschen Vergangenheit befreien wollen. Letzte Woche etwa fantasierte der Journalist Gabor Steingart in einem Deutschland war Gefangener der Hitlerzeit” überschriebenen Stück mit Blick auf Merz und Israel: Statt Unterwerfung demonstriert Deutschland nun Selbstbewusstsein”. 

Stattdessen geht es um eine differenzierte Diskussion deutscher Interessen mit Blick auf Israels Sicherheit. Ein Beispiel dafür sind Waffenlieferungen. Der Iran bedroht weiterhin Israels Existenz – und auch Deutschland möchte mit Blick etwa auf Drohnentechnologie und Raketenabwehr von israelischer Innovationskraft profitieren. Gleichzeitig hat Deutschland kein Interesse, Israel mit Waffen zu versorgen, die im aktuellen Feldzug in Gaza in Einsatz kommen zur Verübung von Kriegsverbrechen. Dem sollte jede Entscheidung über die Einschränkung von Waffenlieferungen Rechnung tragen. 

Ein weiteres Thema für eine differenzierte Betrachtung ist die Zwei-Staaten-Lösung, die (zu Ende gedacht) auch ein Einstehen für das Existenzrecht eines friedlichen Staats Palästinas umfasst. Ist es in einer Situation, in der die Regierung Netanjahu auf Vertreibung der Palästinenser statt Staatsgründung setzt, produktiv, dass Deutschland einen palästinensischen Staat offiziell anerkennt gemeinsam mit EU-Partnern wie Frankreich und Spanien? Auch die Debatte um die dringend notwendige Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland braucht eine nuancierte Betrachtung. 

Es ist unerträglich, wenn immer mehr Jüdinnen und Juden sich aufgrund des gerade auch nach dem 7. Oktober 2023 zunehmenden Antisemitismus hierzulande unsicher fühlen. Gleichzeitig ist es falsch, wenn Bundestag und Bundesregierung (wie etwa in der Antisemitismus-Resolution vom letzten Herbst) eine von der Netanjahu-Regierung protegierte expansive Definition (die sogenannte IHRA-Arbeitsdefinition”) vorgeben, die es erlaubt, legitime Kritik an Israel leicht als Antisemitismus zu brandmarken. Dies untergräbt nur die Legitimität des Vorgehens gegen real existierenden Antisemitismus.

40 Prozent der unter 40-jährigen in Deutschland wünscht sich laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung eine Verringerung der Beziehungen zu Israel. Die Politik sollte dies als Alarmzeichen sehen. Nur wenn wir zu einer differenzierten Debatte jenseits der Staatsräson-Formel kommen, können wir die langfristige Grundlage für die deutsch-israelischen Beziehungen sichern. 


Dieser Kommentar wurde ursprünglich vom Stern am 3. Juni 2025 veröffentlicht.