Strategische Abhängigkeiten: Was Deutschland von G7-Partnern lernen kann
Wirtschaftliche Sicherheit war ein Kernthema beim G7-Gipfel in Hiroshima im Mai – ganz im Sinne der japanischen Gastgeber, die dieses Konzept in den letzten Jahren maßgeblich geprägt haben. Auch Deutschland musste spätestens mit Russlands Erpressungsversuchen im Energiesektor erkennen, dass wirtschaftliche Verflechtungen zu Fragen der nationalen Sicherheit werden können. Seitdem ist das Thema „strategische Abhängigkeiten“ in Berlin allgegenwärtig. Gerade in puncto Lieferkettenabhängigkeiten bleibt es aber noch zu oft bei einer Scheindebatte über die Frage, ob Deutschland seine Wirtschaft von der Chinas „entkoppeln“ sollte – ein Bruch, den niemand in relevanter Position ernsthaft fordert. Um wirtschaftlichen Sicherheitsrisiken tatsächlich zu begegnen, muss Deutschland spezifische Abhängigkeiten identifizieren und gezielt reduzieren. Den Austausch in der G7 sollte Berlin nutzen, um von Partnern zu lernen, deren Prozesse und Strukturen bereits einige Schritte weiter sind.
Aus deutscher Sicht stellen sich beim Umgang mit Lieferkettenabhängigkeiten aktuell zwei grundlegende Probleme. Erstens hat niemand überhaupt einen wirklichen Überblick über alle strategisch relevanten Verflechtungen. Ansätze einer aktiven Risikoanalyse gibt es zwar – so untersucht etwa die Deutsche Rohstoffagentur (DERA) fortlaufend Angebot, Nachfrage und Preisentwicklung bei kritischen Rohstoffen – von einem ganzheitlichen Monitoring kann aber keine Rede sein. Entsprechende Bemühungen der EU-Kommission stehen ebenfalls noch am Anfang und sollten kein Argument sein, auf Vorkehrungen auf nationaler Ebene zu verzichten.
Zweitens gelingt es auch bei offensichtlichen Abhängigkeiten mit politischem Disruptionspotential – etwa bei Halbleitern, Batterien oder Solarmodulen – bislang nicht, zügig überzeugende Strategien zu entwickeln. Der kürzlich veröffentlichte Entwurf einer Photovoltaik-Strategie des Bundeswirtschaftsministeriums etwa benennt die konzentrierte Abhängigkeit von chinesischen Herstellern in diesem Bereich und skizziert als Ziel, Solarmodule und ‑komponenten wieder zuhause und in Europa zu fertigen. Zumindest für einige wichtige Teile der Wertschöpfungskette scheint ein umfassendes Reshoring aber auf absehbare Zeit illusorisch, wie auch die Ergebnisse des begleitenden Stakeholderdialogs mit der Industrie zeigen. Wie Deutschland seine Bezugsquellen für bestimmte Vorprodukte aktiv diversifizieren könnte, wird in der Strategie indes nicht diskutiert. Dieses Beispiel zeigt, dass das Ziel, kritische Abhängigkeiten zu reduzieren, im politischen Prozess noch nicht konsistent verankert ist. Und auch der Ansatz, mit dem die Bundesregierung versucht, solche Strategien zu entwickeln, verdient eine kritische Überprüfung.
Andere Länder sind in diesem Lernprozess schon weiter. In den USA konzentrierte sich die Regierung zunächst darauf, die Arbeit bestehender Institutionen besser aufeinander abzustimmen und einen Schub in der Analyse von Abhängigkeiten zu erreichen. Mit der Executive Order 14017 veranlasste Präsident Joe Biden einen mehrstufigen Prozess in diversen Ministerien, in den auch Industrieakteure einbezogen wurden. Erste Ergebnisse – eine Reihe von Risikoeinschätzungen und Maßnahmenempfehlungen – lagen bereits nach 100 Tagen vor. Um auf diesen analytischen Fortschritten aufzubauen, werden nun nachhaltige Kapazitäten geschaffen, insbesondere im US-Handelsministerium.
In Japan sind die institutionellen Reformen noch augenfälliger. So hat die dortige Regierung nicht nur eine Wirtschaftsabteilung im nationalen Sicherheitssekretariat etabliert, sondern auch einen eigenen Ministerposten für wirtschaftliche Sicherheit geschaffen. Dieser treibt neue Gesetzgebung zur Thematik sowie Analysen und Initiativen zum Abbau kritischer Abhängigkeiten voran. Außerdem hat Japan ein „nationales Think Tank-Projekt“ aufgesetzt, um zu besonders kritischen Wirtschaftsbereichen ein klareres Bild zu gewinnen. Dieses Projekt soll perspektivisch in eine permanente Organisation überführt werden.
Für die Diskussion in Deutschland stechen aus diesen Erfahrungen zwei Aspekte hervor. Zum einen: Relevante Expertise muss über verschiedene Ministerien und Behörden hinweg mobilisiert werden. Dabei geht es nicht um maximale Zentralisierung mit großem Umbauaufwand – auch in Japan wurden längst nicht alle Zuständigkeiten unter dem neuen Ministerposten gebündelt. Was es jedoch braucht ist eine stringente übergreifende Steuerung, sowohl der Monitoring- und Analysebemühungen als auch der Entwicklung entsprechender politischer Antworten. Das gilt auch für ein Land wie Deutschland, in dem die Eigenverantwortung der einzelnen Ministerien groß geschrieben wird. Auf Basis eines gemeinsamen Analyserahmens sollten Aufträge auf hoher politischer Ebene zugeordnet und nachgehalten werden. Ein solcher systematischer Ansatz würde auch dazu dienen, das Thema wirtschaftliche Sicherheit dauerhaft auf der Agenda der Bundesregierung zu verankern.
Zum anderen muss die Bundesregierung besser darin werden, ein konstruktives Zusammenspiel von Politik, Privatsektor und Wissenschaft zu orchestrieren. Dieses ist zentral, wenn Deutschland seine tiefe Industrieexpertise nutzen und mit technologischen Entwicklungen und Marktdynamiken Schritt halten will. Ansätze wie der Stakeholderdialog des Wirtschaftsministeriums zur Solarindustrie zeigen in die richtige Richtung. Damit in solchen Formaten wirklich wirksame Schritte zur Reduzierung von Abhängigkeiten erarbeitet werden können braucht es allerdings mehr inhaltliche Tiefe. Hierbei ist Kreativität gefragt, um Firmen zur Mitwirkung zu bewegen und ihre Einbindung gleichzeitig transparent zu gestalten.
In der Erkenntnis, dass strategische Lieferkettenabhängigkeiten zu echten Sicherheitsrisiken führen können, hat Deutschland zu seinen internationalen Partnern aufgeschlossen. Die Schritte, welche die Politik bislang unternommen hat, um diese Risiken konkret zu erfassen und anzugehen, reichen jedoch bei weitem nicht aus. Wenn die Bundesregierung es ernst damit meint, kritische Abhängigkeiten insbesondere von China zu reduzieren, dann braucht es dafür auch hierzulande einen systematischeren Ansatz.