Probleme dauern an: Der schlechte EU-Asylkompromiss verpflichtet die Ampel
Mit der Abstimmung im EU-Parlament ist es beschlossene Sache: Die EU vollzieht die tiefgreifendste Reform in der Geschichte ihres gemeinsamen Asylsystems. Vorgesehen sind ab 2026 unter anderem Schnellverfahren an den Grenzen, dazu Inhaftierung derjenigen, deren Asylgesuche statistisch geringere Erfolgsaussichten haben, und eine Ausweitung der Regelungen zu “sicheren Drittstaaten”.
Der realpolitische Kompromiss beendet vorerst ein jahrelanges Ringen. Für Bundeskanzler Olaf Scholz war die Einigung “historisch”. Außenministerin Annalena Baerbock warb noch am Dienstag für die “hart verhandelte Reform”, obwohl die Bundesregierung in diesen Verhandlungen kaum eigene Akzente hatte setzen können. Nicht nur das: Zum Ärger einiger Bundes-Grünen stimmten die Europa-Grünen bei der Abstimmung am Mittwoch mit ein.
In der Tat ist der verhandelte Kompromiss ein schlechter — die wichtigsten strukturellen und politischen Probleme des EU-Asylsystems beseitigt er nicht.
Erstens fehlen politische Anreize für die Angleichung der Asylsysteme und der Aufnahme von Flüchtlingen. Die wichtigsten Gründe für die jetzige ungleiche Verteilung von neu ankommenden Asylsuchenden in den Mitgliedsstaaten sind neben familiären Anknüpfungspunkten die unterschiedlichen Bedingungen für Asylsuchende in den Ländern der EU, etwa bei den Asylverfahren, der Unterbringung oder der Arbeitsmarktsituation. Diese Bedingungen veranlassen Asylsuchende, innerhalb der EU insbesondere nach Deutschland weiterzuwandern. Im Zeitraum Januar bis August 2023 waren in Deutschland in über 38.000 Fällen eigentlich andere Mitgliedsstaaten für das Asylverfahren zuständig. Dazu kommt eine signifikante, aber kleiner als weithin angenommene Gruppe von Personen, die eigentlich zuvor in einem anderen EU-Staat hätten registriert werden müssen. Überstellungen in andere EU-Länder scheitern daneben an den Behörden in Deutschland und anderen EU-Staaten, aber auch an deutschen Gerichten. Sie sorgen mit Fug und Recht dafür, Personen nicht dorthin zu überstellen, wo sie existenzbedrohende Notlagen und fehlende Unterbringung erwarten.
Keine der angedachten Reformen setzt für die Mitgliedsstaaten Anreize, die Bedingungen für Asylsuchen zu verbessern. Die Reform betrifft nämlich nicht die umstrittenen Dublin-Regeln, insbesondere auch nicht die Regel, dass jene Staaten für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig sind, die einen Asylsuchenden haben erstmals in die EU einreisen lassen. Gleichzeitig fällt der Solidaritätsmechanismus, der die EU-Hauptaufnahmeländer unterstützen und eigentlich auch die politische Bereitschaft zu Flüchtlingsaufnahme erhöhen sollte, schwach aus. Erfahrungen aus den letzten Jahren zeigen, dass zur freiwilligen Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen EU-Ländern wenig Bereitschaft besteht.
Zweitens macht sich die EU von Drittstaaten abhängig: In der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus haben sich demokratische Parteien in allen EU-Staaten in eine Ecke drängen lassen, in der die einzige Währung für politischen Erfolg die drastische Reduktion der Zugangszahlen ist. Es gibt aber keine rechtssichere Art, diese Zahlen derart zu reduzieren, die ohne politische Kooperation mit Drittstaaten auskommt. Schon die Anwendung der nun beschlossenen Regelungen zu sicheren Drittstaaten bleibt abhängig von der dortigen politischen Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen. Doch nichts in der Reform wird den politischen Willen in diesen Staaten stärken, das eigene Asylsystem so zu verbessern, dass es europäischen Anforderungen genügt. Im Gegenteil: Die Aussicht, für die EU als Auffangbecken der Flüchtlingsaufnahme zu fungieren, war noch für kein Land attraktiv. Auf dem Westbalkan lässt sich seit Jahren beobachten, wie rechtswidrige Zurückweisungen entlang der Migrationsrouten zunehmen.
Drittens droht eine unzureichende Überwachung der Mindeststandards. Eines der größten Probleme des gemeinsamen Asylsystems ist die Nicht-Einhaltung der bereits vor Jahren gemeinsam beschlossenen Mindeststandards: Push-backs, Strafverfahren gegen Seenotretter und andere humanitäre Helfer, fehlender Rechtsschutz, schlechte Verfahren und mangelhafte Unterbringung — all das dürfte es eigentlich nicht geben. Statt Kontrollen zu verstärken, schafft die Reform neue Schlupflöcher. Die EU-Kommission, eigentlich die “Hüterin der Verträge” in der Europäischen Union, kommt dieser Kontrollfunktion aus Angst vor EU-feindlichem Gegenwind längst nicht mehr nach. Aber es ist auch der schnodderige bis offen rechtsbrüchige Umgang mit dem EU-Recht, der in den vergangenen Jahren dazu beigetragen hat, dass sich Asylthemen rechtspopulistisch ausschlachten ließen. Die EU ist an einem Punkt, an dem es offenbar als leichter angesehen wird, mit dem tunesischen Präsidenten zu verhandeln, als untereinander die bessere Behandlung von Asylsuchenden im Einklang mit den EU-Mindeststandards und Grundrechten zu erwirken.
Ob bei den jetzigen politischen Mehrheitsverhältnissen in Europa ein anderes Ergebnis möglich gewesen wäre, sei dahingestellt. Auch die Bundesregierung muss den schlechten Kompromiss umsetzen. Das verpflichtet die Ampel erst recht. In den kommenden zwei Jahren muss die Bundesregierung bei der grundrechtskonformen Umsetzung der Regeln eine Vorreiterrolle spielen. Sie muss darauf drängen, Kontrollmechanismen bei den EU-Institutionen und in den Mitgliedsstaaten zu verbessern. Dafür muss sie vor allem mit anderen EU-Partnern erwirken, dass die (bald neu zu besetzende, und nun von der Last des Gesetzgebungsverfahrens befreite) EU-Kommission ihre Kontrollfunktion im Bereich Asyl wieder ernst nimmt und die Zurückhaltung bei Vertragsverletzungsverfahren überdenkt. Die Bundesregierung muss daneben EU-Kooperationen mit Drittstaaten widersprechen, die nicht an menschenrechtliche und flüchtlingspolitische Mindeststandards geknüpft sind. Und schließlich muss sie als Antwort auf den Rechtspopulismus einen konstruktiven innenpolitischen Umgang mit Asylthemen vorleben: Statt schwer einlösbare Versprechungen zu geben — wie zur Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten — muss sie erhöhte öffentliche Investitionen in kommunale Infrastruktur, Bildung und in den sozialen Wohnungsbau ermöglichen, die sowohl für Flüchtlinge als auch für die einheimische Bevölkerung von Nutzen sind.
This commentary was first published in n‑tv on April 14, 2024.