Commentary

Deutsche Israel-Politik: Die Unvernunft der Staatsräson

Benner 2024 Staatsraeson ZEIT
Source: Marek Studzinski/Unsplash
12 Feb 2024, 
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ZEIT ONLINE

Altkanzler Helmut Schmidt nannte die Rhetorik von Israels Sicherheit als deutscher Staatsräson 2010 eine gefühlsmäßig verständliche, aber törichte Auffassung, die sehr ernsthafte Konsequenzen haben könnte.” Die letzten Monate nach der Zäsur der Massaker der Hamas-Terroristen gegen israelische
Zivilisten geben Schmidt recht und verdeutlichen die Unvernunft der von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 in einer Rede vor der Knesset eingeführten Staatsräson-Formel. Nicht weil, wie von Schmidt befürchtet, deutsche Soldaten zur Verteidigung Israels in den Krieg gezogen wären. Sondern weil die Rede von der Staatsräson den Blick trübt: den von außen auf die vielfach durchaus differenzierte deutsche Israel-Politik und bisweilen auch den vieler deutscher Entscheidungsträger für die richtige Kommunikation und Positionierung. 

All das richtet vermeidbaren innen- wie außenpolitischen Schaden an – und hilft am Ende auch Israel nicht. Der Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock in Israel und die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz diese Woche bieten die Gelegenheit, eine kommunikative Abkehr von der Staatsräson-Formel einzuleiten.

Zwei Ereignisse der letzten Monate illustrieren die von der Staatsräson-Rhetorik verzerrten Außenwahrnehmungen. Ende Oktober 2023 griff Israels Botschafter Ron Prosor die Bundesregierung nach der Enthaltung in der UN-Generalversammlung bei einer Gaza-Resolution, bei der Deutschland im Sinne Israels Verbesserungen verhandelt hatte, scharf an: Die Staatsräson bedeutet, gerade in schwierigen Zeiten an der Seite Israels aktiv zu stehen.” Die deutsche Positionierung sei moralisch falsch und die Geschichte wird darüber urteilen.” Anfang Januar dieses Jahres begründete die fehlgeleitete Initiative Strike Germany den Boykottaufruf von Kulturschaffenden gegen Deutschland damit, kein anderer Staat habe die bedingungslose Unterstützung von Israel zur Staatsräson’ gemacht – und zur Voraussetzung zur Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben.”

Staatsräson hört sich an, als ob alle weiteren Fragen unnötig wären

Das Resultat: Künstler auf dem Holzweg boykottieren Deutschland für eine angeblich bedingungslose Unterstützung Israels, die auch der israelische Botschafter einfordert, Deutschland aber natürlich nicht liefert, weil das Interesse der israelischen Regierung (wie im Falle der UN-Abstimmung) eben nicht immer deckungsgleich mit dem Interesse Deutschlands ist. Das ist eine absurde Gemengelage.

Doch das Problem geht noch tiefer. Die Massaker der Hamas erschütterten deutsche Entscheidungsträger zu Recht bis ins Mark. Sie stellen das nach der Shoah von Deutschland unterstützte Gründungsversprechen Israels infrage: nie wieder massenhaftes Abschlachten von Jüdinnen und Juden zuzulassen. In dieser Situation liegt es nahe, auf Merkels Staatsräson-Formel zurückzugreifen. Schließlich hatte Merkel selbst formuliert: Und wenn das so ist, dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.” Merkel hat ihre Formel in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft nie näher ausgeführt. Es sei um etwas Grundsätzliches, nicht Verhandelbares” gegangen, lässt sie heute wissen.

Das klingt nach etwas, das Klarheit, Gewissheit und Orientierung verspricht. Wahrscheinlich genau in dieser Hoffnung auf Klarheit, Gewissheit und Orientierung formulierte Merkels Nachfolger Olaf Scholz in seiner Bundestagsrede fünf Tage nach dem Massaker: In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.” Das hört sich an wie absolute Klarheit. Als ob alle weiteren Fragen unnötig wären.

Doch so glasklar die Verantwortung der Hamas und Israels Recht auf Selbstverteidigung sind, so stellen sich seit dem 7. Oktober eine Vielzahl offener Fragen, die auch in der israelischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden: Was ist der klügste Weg zur Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung? Was sind realistische Ziele? Tappt Israel in die Falle der Terroristen, wenn es sich das Ziel der kompletten Eliminierung der Hamas setzt? Priorisiert Premier Netanjahu den eigenen Machterhalt gegenüber dem Überleben der israelischen Geiseln? Nutzen radikale Siedler im Westjordanland die Situation für Gewalttaten gegen Palästinenser aus? Wie kann man am besten Zivilisten in Gaza schützen im Krieg gegen eine Terrorgruppe, die systematisch Zivilisten als Schutzschilde missbraucht? Besteht die Gefahr, dass Israel Kriegsverbrechen der Hamas mit eigenen Kriegsverbrechen beantwortet?

Die Bundesregierung signalisiert Diskussionsverweigerung

Doch gab es in den Wochen nach dem 7. Oktober kaum jemanden aus der Regierung, den Ampelparteien sowie der CDU/CSU-Opposition, der diese Fragen öffentlich diskutierte. Dabei hatte der vermeintlich klare Begriff der Staatsräson einen zentralen Anteil. Dieses vordemokratisch geprägte Konzept lädt nicht zu Diskussionen ein. Es ist ein Beispiel für das, was der Soziologe Ulrich Beck hergestellte Fraglosigkeit” genannt hat.

Dabei bedarf es aktuell nicht nur mit Blick auf die geplante israelische Offensive in Rafah, wo 1,3 Millionen GazaBewohnerinnen Schutz suchen, in besonderer Weise einer offenen Diskussion. Der israelisch-deutsche Publizist Meron Mendel wies bereits Anfang 2023 darauf hin, dass das Konzept von Israels Sicherheit als Staatsräson besonders problematisch ist mit Blick auf die ultranationalistische und religiös-fundamentalistische” Regierung Netanjahu. Doch öffentlich schien der Bundeskanzler der von Extremisten durchsetzten Regierung Netanjahus dennoch einen Blankoscheck auszustellen. Er habe keine Zweifel” daran, dass Israel bei seinem militärischen Vorgehen gegen die Hamas im Gazastreifen das Völkerrecht einhalten werde, sagte Scholz Ende Oktober. Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten.”

Dabei hatte Israels Verteidigungsminister Joaw Gallant bereits am 9. Oktober Maßnahmen angekündigt, die als Ankündigung von Kriegsverbrechen gewertet werden können: Ich habe eine komplette Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom, kein Essen, keinen Treibstoffen geben, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.” Nun könnte man Scholz’ Worte wohlwollend als Versuch einer sanften Erinnerung an die israelische Regierung interpretieren, sich ans humanitäre Völkerrecht zu halten. Doch bei den meisten kommt dies als Verweigerung des Bundeskanzlers an, die extreme Sprache Gallants und anderer israelischer Regierungsvertreter ernst zu nehmen.

Deutschland ist einer der größten finanziellen Unterstützer Palästinas

Eine ähnlich einseitige Diskussionsverweigerung signalisierte die Bundesregierung mit Blick auf die Klage Südafrikas gegen Israel beim Internationalen Gerichtshof (IGH). In einer Stellungnahme am 12. Januar warf die Regierung Südafrika politische Instrumentalisierung” der Völkermord-Konvention vor und kündigte an, in der Hauptverhandlung als Drittpartei zu intervenieren. Kein Wort dazu, dass Deutschland Vertrauen in die Arbeit des IGH hat. Nicht zuletzt angesichts der sehr balancierten Eilentscheidung des IGH zwei Wochen später wirkt die Stellungnahme der Bundesregierung unnötig konfrontativ

Diese diskussionsverweigernden Positionierungen im Namen der Staatsräson verstellen auch den Blick darauf, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht eine weit balanciertere Israel-Politik verfolgt. Das zeigt sich nicht nur im eingangs erwähnten Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen. Hinter den Kulissen hatte der Bundeskanzler seinen Amtskollegen Netanjahu bei seinem Besuch in Israel kurz nach den Massakern des 7. Oktober laut einem ZEIT-Bericht daran erinnert, dass ein gnadenloses, brutales Vorgehen im Gazastreifen zum einen die Gefahr eines Flächenbrandes erhöht, zum anderen jenen Nährboden legt, auf dem neuen Generationen von Terroristen besonders schnell wachsen. Und zum Dritten die Überlebenschancen der Geiseln dramatisch verringert.”

Gleichzeitig hat die deutsche Regierung Siedlergewalt verurteilt und das Ziel der Zweistaatenlösung gegen die Netanjahu-Regierung verteidigt. Die von rechtsradikalen Ministern der Netanjahu-Regierung besuchte Konferenz, die Pläne zur ethnischen Säuberung Gazas feierte, verurteilte die deutsche Regierung Ende Januar sehr klar. Am vergangenen Wochenende bezeichnete Außenministerin Baerbock eine Offensive der israelischen Armee als Katastrophe mit Ansage.” 1,3 Millionen Schutzsuchende könnten sich nicht in Luft auflösen.” Deutschland hat seine humanitäre Hilfe für Gaza ausgeweitet und die Entwicklungshilfe für die palästinensischen Gebiete nach einer Überprüfung aufrechterhalten.

Damit ist Deutschland weiterhin einer der größten finanziellen Unterstützer Palästinas. Doch in der deutschen wie internationalen Öffentlichkeit wird dies durch die Staatsräson-Rhetorik verdeckt – mit beträchtlichen innen- wie außenpolitischen Kosten und Risiken.

Ein unglaubwürdiges Deutschland ist kein guter Verbündeter

In der deutschen Öffentlichkeit verliert die Politik der israelischen Regierung immer mehr Unterstützung. 61 Prozent der Deutschen halten laut dem ZDF-Politbarometer von Mitte Januar das Vorgehen Israels im Gazastreifen für nicht gerechtfertigt aufgrund der vielen zivilen Opfer. Wie viele dieser 61 Prozent fühlen sich von den Regierungsparteien oder der CDU/​CSU repräsentiert? Wie viele macht das anfällig für die perfiden Sirenengesänge eines Oskar Lafontaine, der beim BSW-Gründungsparteitag stolz betonte, dass eine kritische Positionierung gegenüber Israel ein Hauptabgrenzungsmerkmal des Wagenknecht-Bündnisses gegenüber der AfD sei?

Es hilft auch Israel nicht, wenn den Parteien der Mitte die Unterstützung für die Unterstützung Israels wegbricht. Genauso wenig hilft es Israel (oder der Ukraine), wenn Deutschland international politisch geschwächt wird, weil Vorwürfe von Doppelmoral und selektivem Interesse am Völkerrecht plausibel erscheinen, obwohl manche Kritiker Deutschlands selbst scheinheilig agieren. Ein unnötig unglaubwürdiges Deutschland ist kein effektiver diplomatischer Verbündeter. Deutschland kann beides: klare Kante gegen Antisemitismus und Israelhass und eine Kommunikation, die daheim und global mehr Menschen von der Richtigkeit der deutschen Positionierung überzeugt.

Es ist deshalb an der Zeit, die Staatsräson-Formel zu überdenken. Vor 2008 schaffte es Deutschland, der besonderen historischen Verantwortung gegenüber Israel gerecht zu werden, ohne die Doktrin der Staatsräson zu bemühen, in Reden, Koalitionsvereinbarungen oder Bundestagsbeschlüssen.

Dahin können und müssen wir zurück. Außenministerin Baerbock bei ihrem Besuch in Israel diese Woche und Bundeskanzler Scholz bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am kommenden Wochenende könnten damit anfangen. Sie könnten ganz ohne Beschwörung der Staatsräson darlegen, wie Israel aus deutscher Sicht am besten seine Sicherheit langfristig regeln und welchen Beitrag Deutschland leisten kann. Das würde Israels Sicherheit in keiner Weise schmälern. Wo immer Deutschland etwa mit der Lieferung von U‑Booten einen wirklichen Beitrag zu Israels Sicherheit leisten kann, geschähe das weiterhin.

Aber es würde den Weg freimachen für eine bessere Diskussion und auch für einen differenzierteren Blick von außen auf die real existierende deutsche Israel-Politik. Sergey Lagodinsky, deutsches Mitglied des Europaparlamentes, formulierte Ende Januar in einer Rede zum Holocaustgedenktag in Brüssel sehr treffend: Etwas ist grundlegend falsch mit einer Welt, die nicht beides schafft: palästinensische Menschen und Opfer zu betrauern und jüdische Opfer anzuerkennen – und die Komplexitäten anzuerkennen, mit denen beide Völker konfrontiert sind und mit denen sie kämpfen.” Diesen Komplexitäten werden wir besser gerecht, wenn wir von der hergestellten Fraglosigkeit der Staatsräson Abschied nehmen.


This commentary was first published in ZEIT ONLINE on February 122024.