Gegenüber Putin darf Europa keine Schwäche zeigen
Beim Weltwirtschaftsforum in Davos fragte der ukrainische Präsident Selenskyj kürzlich mit Blick auf das in Europa und den USA eingefrorene russische Zentralbankvermögen: „Wenn die Welt 300 Milliarden US-Dollar hat, warum nutzen wir diese nicht?“. In der Tat: es ist verlockend, diese Summe der Ukraine zugute kommen zu lassen, um sie in ihrem Kampf gegen Russlands Angriffskrieg zu unterstützen. Die Stimmen dafür mehren sich. Erst letzte Woche pries etwa der ehemalige Weltbank-Präsident Robert Zoellick die „diplomatischen, wirtschaftlichen und juristischen Gewinne“ eines solchen Schritts an. Die USA, unterstützt von Großbritannien, Kanada und Japan, drängen innerhalb der G7 darauf, bis zum zweiten Jahrestag des russischen Angriffs Ende Februar die Vorbereitungen für eine Beschlagnahme russischer Reserven zu treffen. Jetzt kommt es auf die Europäische Union an, in der mit rund 210 Milliarden EURO der Großteil der russischen Reserven liegt. Doch Europa sollte sich im Kreise der G7-Partner gegen eine Konfiszierung aussprechen. Dies wäre zum jetzigen Zeitpunkt ein Zeichen der Schwäche gegenüber dem Kreml. Zudem würde es Europas Glaubwürdigkeit als globalem Verteidiger von Völkerrecht und Rechtsstaatlichkeit weiter schwächen.
Ex-Weltbankpräsident Zoellick fordert richtigerweise, dass „die Freunde der Ukraine ein Signal senden müssen, dass Moskau nicht länger durchhalten kann als Kyiv“. Schließlich ist es Putins Wette, dass sein Land ausdauernder ist als die westlichen Unterstützer der Ukraine. Zoellick behauptet: „Es wäre eine elegante Form der Gerechtigkeit, dies mit Moskaus eigenem Vermögen zu tun“. Dabei übersieht er genauso wie andere Unterstützer dieses Schritts, dass das Signal des Einsatzes russischen Zentralbankvermögens für die Ukraine-Hilfe genau ein Gegenteiliges wäre: eines der Schwäche, nicht der Entschlossenheit. Denn es ist kein Zufall, dass die Stimmen für eine Konfiskation gerade jetzt laut werden, da es sowohl in den USA als auch in Europa zunehmend innenpolitische Probleme bei der Mobilisierung der Finanzmittel für die Unterstützung der Ukraine gibt. In den USA blockieren die Republikaner weitere Unterstützung. In Europa legte Ungarns Premier Orbán im Dezember ein Veto die Verabschiedung des 50 Milliarden-EURO-Pakets für die Ukraine. In Deutschland ist laut ARD Deutschlandtrend die Zahl derer, die die finanzielle Unterstützung für die Ukraine für zu hoch halten, auf 41% gestiegen (und nur 12% fordern höhere Hilfen).
Doch wenn die Unterstützer der Ukraine schon beim ersten Gegenwind auf den Trick der Finanzierung durch russisches Zentralbankvermögen zurückgreifen, signalisiert dies alles andere als Standfestigkeit. Putin wird sich bestätigt sehen: der Westen hat keine Ausdauer. Das richtige Zeichen wäre, erfolgreich innerhalb des Westens um Finanzierung zu werben. In Davos sagte der ukrainische Außenminister Kuleba, dass die Ukraine „den besten Deal auf dem globalen Sicherheitsmarkt“ anbietet. Unterstützer müßten keine eigenen Soldaten in den Kampf gegen die gemeinsame Bedrohung Russland schicken. „Gebt uns die Waffen, gebt uns das Geld und wir bringen die Aufgabe zu Ende“. Kuleba hat recht: für den Westen und insbesondere für Europa ist die Unterstützung der Ukraine eine sehr gute Investition. Und es ist das richtige Zeichen gegenüber dem Kreml, dass Europa politisch dafür die nötigen finanziellen Ressourcen mobilisiert, statt den vermeintlich kostengünstigen Weg über das Einziehen der russischen Reserven zu gehen. Der Kreml stellt sich auf einen langen Krieg ein. Wenn Europa schon Anfang 2024 politisch die Puste ausgeht beim Mobilisieren der Finanzmittel, dann sendet das ein fatales Signal.
Zudem ist die Enteignung der Reserven auch ein Schritt mit beträchtlichen Risiken für die Glaubwürdigkeit Europas mit Blick auf internationales Recht und Rechtsstaatlichkeit. EU-Kommissar Dombrovskis etwa argumentierte gegenüber der FAZ, wenn es keine Rechtsgrundlage gebe für die Beschlagnahme, müsse die EU eben eine schaffen. „Wo ein politischer Wille sei“, so Dombrovskis, „müsse es auch einen juristischen Weg geben“. Die EU wolle „schließlich – ganz wörtlich – dafür sorgen, dass der russische Aggressor für die von ihm angerichtete Zerstörung in der Ukraine bezahle“. Das ist Rechtspolitik nach dem Prinzip „Was nicht passt, wird passend gemacht“. Von US-Befürwortern wird dies keck als Stärkung internationalen Rechts verkauft, indem man durch kreative Anwendung neues Gewohnheitsrecht schafft. Letztes Jahr tat sich Ex-Weltbankpräsident Zoellick mit dem Ex-Finanzminister Larry Summers und dem Ex-Diplomaten Philip Zelikow zusammen, um zu argumentieren, dass die Konfiszierung eine zulässige sogenannte Countermeasure gegen den Aggressor Russland sei. Doch Countermeasures stehen der angegriffenen Partei zu, also der Ukraine. Es gibt keine schlagkräftigen Präzedenzfälle für massive Countermeasures durch Drittstaaten, um Partnerstaaten zu helfen durch eine irreversible Enteignung von Zentralbankvermögen.
Zu diesem Schluss kommt auch eine Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zum „Entzug von Geldvermögen ausländischer Staaten als Sanktion“. Entsprechend urteilt auch der Völkerrechtler Christian Tietje: „Auf russisches Staatsvermögen bezogen gibt es damit keine Möglichkeit, dieses einseitig entschädigungslos einzuziehen, um so den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren“. Tietje schreibt den westlichen Staaten gleichzeitig ins Stammbuch: „ Man sollte die etablierten rechtsstaatlichen Standards, die hier zu beachten sind, nicht vorschnell über Bord werfen – erst recht nicht, wenn es gerade das Ziel des Aggressors ist, eben jene zu zerrütten“. Hohelieder auf die „regelbasierte internationale Ordnung“, die europäische Regierungen regelmäßig anstimmen, würden noch unglaubwürdiger klingen, wenn sich Europa über rechtsstaatliche Prinzipien hinwegsetzt, und sei es in der guten Absicht, der Ukraine zu helfen.
Es wäre auch eine Hochrisikostrategie. Nicht nur müßte Europa befürchten, daß andere Staaten in Zukunft das rechtlich fragwürdige Vorgehen bei der Konfiszierung als Vorwand für schädliches Verhalten gegenüber europäischen Vermögenswerten nutzen würden. Es wäre desaströs, sollte es Moskau gelingen, sich auf dem Rechtsweg erfolgreich gegen die Beschlagnahme des Zentralbankvermögens in Europa zu wehren. Der Kreml bereitet sich bereits auf eine solche rechtliche Schlacht vor und hätte höchstwahrscheinlich alles andere als schlechten Karten. Ein Europa, das die Ukrainehilfe auf russischen Zentralbankreserven baut, könnte ein ähnliches fiskalpolitisches Waterloo erleben wie die Ampelregierung mit dem aus Coronahilfen befüllten Klima- und Transformationsfonds beim Bundesverfassungsgericht.
Der bessere Weg ist, das russische Zentralbankvermögen weiter eingefroren zu lassen. Der Kreml kann es schon heute in keinerlei Weise für die Kriegsführung nutzen. Das hat jetzt schon eine abschreckende Wirkung gegenüber möglichen Nachahmern Russlands wie China. Nach Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine kann das Vermögen dann für Reparationszahlungen an die Ukraine eingesetzt werden. Auf der Basis eines bereits von der UN-Generalversammlung eingerichteten internationalen Schadensregisters kann das von Drittstaaten eingefrorene russische Staatsvermögen der Ukraine in einem geordneten Verfahren, für das es Präzedenzfälle gibt, als Reparationsleistung zur Verfügung gestellt werden. Und angesichts der massiven Schäden durch den russischen Angriffskrieg, die schon jetzt über die 300 Milliarden im Westen liegenden Zentralbankvermögen hinausgehen, wird dieses Geld dann mehr als nützlich sein. In der Zwischenzeit sollten Europa und der Westen aus eigener Kraft die Finanzmittel für die Ukraine mobilisieren.
Einen wichtigen Schritt ging Europa an diesem Donnerstag bei der Sondersitzung des Europäischen Rats durch die Verabschiedung des Ukraine-Unterstützungsfonds in Höhe von 50 Milliarden EURO gehen trotz vorherigen Widerstands durch Ungarn. Daß die führende EU-Staaten Ungarns Premier Orbán deutlich gemacht haben, daß er für eine Blockade einen hohen Preis zahlen würde und man in diesem Fall eine Sonderkonstruktion ohne Ungarn wählen würde, war richtig. Die erfolgreiche Verabschiedung des Finanzierungspakets war ein Signal der Entschlossenheit gegenüber Putin. Jetzt gilt es auch, innerhalb Deutschlands die Voraussetzungen für einen langen Atem bei der Unterstützung der Ukraine zu schaffen.
In Deutschland kann sich Putin momentan über die politisch zersetzende Wirkung der Schuldenbremse freuen. Diese treibt immer mehr Wähler in die Arme kremlfreundlichen AfD und dem Wagenknecht-Bündnis. Und bei den Unterstützerparteien der Schuldenbremse untergräbt diese die Unterstützung für die Ukraine. So fordern 47% der CDU/CSU-Anhänger laut einer ARD-Umfrage ein Zurückfahren der militärischen Unterstützung der Ukraine als Teil von Budgetkürzungen. Jedem Unterstützer der Schuldenbremse sollte endlich klar sein, dass er nur Putin in die Hände spielt. Das wahre Zeichen der Stärke gegenüber Rußland wäre es, in Deutschland und Europa die fiskalpolitischen Voraussetzungen für eine langfristige finanzielle Unterstützung der Ukraine und die Investitionen in die eigene Verteidigungsfähigkeit zu schaffen.
A version of this commentary first appeared in ZEIT ONLINE on February 1, 2024.