Commentary

Für Deutschland ist Indien zu oft ein unverstandener Partner

Benner Scholz 2023 Fuer Deutschland ist Indien zu oft ein unverstandener Partner
Source: PradeepGaurs / Shutterstock
11 Sep 2023, 
published in
ntv.de

An diesem Wochenende steht Indiens Premier Narendra Modi als Gastgeber des G20-Gipfels im globalen Rampenlicht. Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr wird Bundeskanzler Olaf Scholz in das mit inzwischen 1,4 Milliarden Menschen bevölkerungsreichste Land reisen, das zugleich die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Trotz der wachsenden Bedeutung Indiens fehlt in Deutschland oft ein realistischer Blick auf einen zentralen strategischen Partner Deutschlands und seine Außenpolitik.

Weder Illusionen über eine Wertepartnerschaft noch die öffentliche Empörung über Indiens selbst ernannte neutrale” Haltung gegenüber der russischen Invasion in der Ukraine sind zielführend. Nur wenn wir Indiens Streben nach einer Rolle als eigenständiger globaler Machtpol und auch seine sicherheitspolitischen Verwundbarkeiten verstehen, kann Deutschland das beträchtliche Potenzial der Beziehungen mit Indien nutzen.

Indien als Pol einer multipolaren Weltordnung

Indien strebt unter dem erstmals 2014 gewählten Premierminister Modi und dessen Indischer Volkspartei (BJP) entschlossen nach größerer internationaler Macht und Anerkennung. Wie Bundeskanzler Scholz sieht Modi eine multipolare Weltordnung im Entstehen, in der Indien eine zentrale Rolle spielen möchte. Politische Leitlinie stellt dabei die strategische Autonomie dar, nach der jegliche Partnerschaften nach Vorteilen für eigene Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen und nicht auf Grundlage gemeinsamer Werte gepflegt werden.

Für Indien ist es deshalb kein Widerspruch, einerseits im Rahmen der Quad-Gruppe mit den USA, Japan und Australien enger mit dem Westen zusammenzuarbeiten, andererseits gemeinsam mit China und Russland Mitglied der BRICS-Gruppe und der Shanghai Cooperation Organization (SCO) zu sein. Die Zusammenarbeit in der Quad-Gruppe hilft indischen Sicherheitsinteressen, insbesondere der Gegenmachtbildung gegenüber China. Die BRICS-Gruppe dient für Indien als Gegengewicht gegen die wirtschaftliche Übermacht des der USA und einer westlich dominierten Handels- und Finanzordnung. Vor allem möchte Neu-Delhi durch seine Präsenz in immer stärker chinesisch dominierten Institutionen wie der BRICS und der SCO sicherstellen, dass dort nichts Grundlegendes gegen indische Interessen entschieden wird.

Indiens Zeitenwende: Der unvollständige Bruch mit China

Indiens eigene Zeitenwende war das Jahr 2020. Militärische Auseinandersetzungen mit Dutzenden Toten an der chinesisch-indischen Grenze sorgten für ein fundamentales Umdenken gegenüber China. Indien verfolgt wie auch Deutschland und die Europäische Union einen De-Risking-Ansatz gegenüber China, der auf eine Reduzierung wirtschaftlicher und technologischer Abhängigkeiten sowie eine auch sicherheitspolitische Diversifizierung der Partnerschaften setzt.

Zu den höchsten Prioritäten zählt die Stärkung der bilateralen Beziehungen mit Australien, der EU und Japan. Vor allem die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten haben im Kontext der erhöhten Spannungen mit China jedoch großen Aufwind erfahren, was bei der Kooperation von Rüstungsvorhaben besonders zum Tragen kommt.

So bestätigte der US-Kongress Ende August eine historische Vereinbarung, bei dem das US-Unternehmen GE Aerospace nun gemeinsam mit Indiens Hindustan Aeronautics Limited (HAL) Düsentriebwerke für F414-Kampfjets produziert, die von der indischen Luftwaffe genutzt werden sollen. In einer Anspielung auf die guten Beziehungen sowie eine mögliche Zusammenarbeit im Weltraum verkündete Premierminister Modi in einem Gespräch mit US-Präsident Biden beim Staatsbesuch in Washington im Juni dieses Jahres enthusiastisch: Even the sky is not the limit”.

Die angemessene Antwort hat Indien noch nicht gefunden

Doch Indiens Strategie der Einhegung Chinas geht nicht immer auf. Dass sich China in der Frage um die BRICS-Erweiterung um sechs Staaten beim Treffen im letzten Monat in Johannesburg durchgesetzt hat, führt die Grenzen des indischen Aufstiegs vor Augen. Eine kurz nach dem BRICS-Gipfel veröffentlichte neue Karte der chinesischen Regierung bekräftigt den Anspruch Chinas auf mehrere im Norden und Nordosten von Indien kontrollierten Gebieten.

Die Ankündigung des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, nicht am G20-Gipfel in Neu-Delhi teilzunehmen, wertet die Regierung als gezielte Untergrabung des indischen Führungsanspruches. Für sie stellen die chinesischen Provokationen dabei nicht nur die territoriale Integrität des Landes infrage. Sie befördern darüber hinaus auch ein unterlegenes Bild gegenüber China, welches die indische Regierung mit allen Mitteln verhindern möchte. Eine stark negative Handelsbilanz mit dem weiterhin größten Handelspartner, Chinas militärische Überlegenheit sowie dessen Allianz mit Indiens historischem Erzfeind Pakistan erschweren es Neu-Delhi, auf Pekings aggressives Verhalten angemessene Antworten zu finden.

Kritik am russischen Angriffskrieg bleibt leise

Mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine verfolgt Indien pragmatisch seine Interessen im Rahmen sicherheits- und wirtschaftspolitischer Sachzwänge. Mehr als leise Kritik (“Jetzt ist nicht die Zeit für Krieg”) hat Modi gegenüber Putin öffentlich nicht geäußert. Das hat zum einen damit zu tun, dass Indien aus historischen Gründen stark von der Militärkooperation mit Russland (und zuvor der Sowjetunion) abhängig ist. Mehr als zwei Drittel der Plattformen des indischen Militärs sind russischen Ursprungs.

Zum anderen befürchtet die indische Regierung, dass eine Abkehr von Moskau eine anti-indische China-Russland-Pakistan-Koalition befördern werde. Die vom Westen verhängten Sanktionen gegen Russland lehnt die Regierungsmehrheit im Einklang mit der Opposition ab. Mit Blick auf russische Energieexporte sollte sich Europa jedoch mit der Empörung gegenüber Indien zurückhalten. Jüngst beschwerte sich Politico Europe” darüber, dass aus Indien Diesel, Kerosin und andere aus russischem Öl weiterverarbeitete Produkte nach Europa kommen. Der Schuldige? Indien” titelte das Magazin.

Diese Empörung ist scheinheilig. Niemand zwingt Europa, Ölprodukte aus Indien zu importieren. Und das Problem liegt tiefer. Die USA und Europa haben den Import russischer Energieträger bewusst nicht global sanktioniert. Stattdessen haben sie sich dazu entschieden, diese auf dem Weltmarkt zu dulden, um selbst keinen Preisschock zu erleiden.

Für Deutschland wird Indien immer wichtiger

Statt mit dem Finger auf Indien zu zeigen, wäre es sinnvoller, dem Land bei der Verringerung von Rüstungs- und Energie-Abhängigkeiten von Russland zu helfen. Das Bestreben der Bundesregierung, die oft restriktive Rüstungsexportpolitik gegenüber Indien zu überdenken, ist dabei in der Abwägung ein richtiger Schritt, ohne dabei die problematische Bilanz der Modi-Regierung mit Blick auf Demokratie und Minderheitenschutz schönzufärben.

Als zentraler Sicherheitsakteur im Indo-Pazifik und mit seiner wachsenden wirtschaftlichen und technologischen Bedeutung wird Indien immer wichtiger für Deutschland und Europa, die nach neuen Partnerschaften und Diversifizierung streben. Indien sieht sich, auch im Rahmen der G20-Präsidentschaft, als Stimme des Globalen Südens”. Der indische Außenminister Jaishankar erklärte jüngst, es sei unsere Verantwortung, die geteilte Welt zusammenzubringen”.

Sosehr dieser Anspruch auch Ausdruck nüchterner Interessenpolitik einer aufstrebenden Großmacht ist, so kann eine Brückenfunktion Indiens zwischen dem Westen und dem Globalem Süden für Deutschland durchaus von Vorteil sein. Auf der Basis eines realistischeren Verständnisses von Indiens strategischer Positionierung kann Deutschland gemeinsame Interessen besser verfolgen. Dazu müssen wir künftig auch viel stärker in die Indienkompetenz in deutschen Thinktanks und anderen Forschungseinrichtungen sowie Austausch mit indischen Partnern investieren.


This commentary was originally published on n‑tv on September 92023.