Olaf Scholz muss mit Chinas Premier Klartext reden
Der chinesische Premierminister Li Qiang trifft am Sonntag mit einigen Ministern im Schlepptau zu einem dreitägigen Besuch in Deutschland ein – rund um die alle zwei Jahre stattfindenden deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen. Kein anderer EU- oder G7-Staat unterhält ein solches enges Format mit Peking, weshalb Deutschlands Verbündete den Besuch besonders genau beobachten werden.
Olaf Scholz sollte die Gelegenheit nutzen, um ein starkes Signal zu senden, dass er es ernst meint mit einer realistischeren Chinapolitik. Er sollte gemeinsam mit seinen Ministern die Regierungskonsultationen mit weit mehr Klartext und einer stärkeren europäischen Ausrichtung angehen als seine Amtsvorgängerin Angela Merkel.
Bei den letzten in Präsenz stattfindenden Regierungskonsultationen 2018 in Berlin inszenierte sich Kanzlerin Merkel gemeinsam mit der chinesischen Regierung als »verantwortungsvolle Partner für eine bessere Welt« und nahm sich vor, die »umfassende strategische Partnerschaft« zu intensivieren.
In den 22 Seiten Prosa der Abschlusserklärung log sich die deutsche Regierung an vielen Stellen in die Tasche, mit Peking einen gleich gesinnten Partner zu haben. Bundeskanzler Olaf Scholz stellte dem in seiner ersten Regierungserklärung im Dezember 2021 die Maxime entgegen: »Wir müssen unsere Chinapolitik an dem China ausrichten, das wir real vorfinden«.
Es ist nicht klar, ob Peking zu einer Partnerschaft bereit ist
Die am letzten Mittwoch vorgestellte erste nationale Sicherheitsstrategie macht klar, wie die Regierung das reale China sieht: Sie stellt fest, dass China »immer offensiver eine regionale Vormachtstellung« beanspruche und »immer wieder im Widerspruch zu unseren Interessen und Werten« handele. Die Elemente systemische Rivalität und Wettbewerb hätten in der Beziehung zu China zugenommen. Damit setzt die Regierung den richtigen Grundton für die Regierungskonsultationen am nächsten Dienstag, die sie unter das Motto »Gemeinsam nachhaltig handeln« gestellt hat.
Dabei ist es entscheidend, wie die Regierung diesen Slogan mit Leben füllt. Er spiegelt die Schlussfolgerung der Sicherheitsstrategie wider, dass China ein Partner bleibe, »ohne den sich viele globale Herausforderungen und Krisen nicht lösen lassen«. Es stimmt zweifelsohne, dass viele globale Krisen, von Klima über Pandemien und Verschuldung bis hin zu Russlands Krieg gegen die Ukraine, ohne China schwer erfolgreich anzugehen sind. Doch weit weniger klar ist, ob Peking dabei wirklich zu einer Partnerschaft bereit ist. Einer solchen steht in vielen Bereichen mangelnde Transparenz und Rechtsstaatlichkeit entgegen.
Vertuschung und Heimlichtuerei auf chinesischer Seite etwa behinderten wissenschaftliche und politische Kooperation mit Blick auf die Coronapandemie und ihre Ursprünge. Heute haben mindestens die Hälfte der 38 am meisten von der Zahlungsunfähigkeit bedrohten Länder China als Hauptschuldner. Doch Peking verweigert Transparenz über die Verträge, die es mit diesen Staaten geschlossen hat und stellt sich einem Schuldenerlass entgegen. Die Regierungskonsultationen sollten von deutscher Seite ein Stresstest sein, wie viel genuine Partnerschaft bei globalen Herausforderungen mit Peking möglich ist. Am Ende sollte sich die gemeinsame Erklärung auf Bereiche beschränken, in denen wirkliche Interessenüberschneidungen bestehen und belastbare gemeinsame Verabredungen getroffen werden können. Weniger ist mehr, wenn man sich auf deutscher Seite nichts mehr vormachen will.
Was meint Deutschland mit »De-Risking«?
Darüber hinaus sollte die deutsche Regierung gegenüber der chinesischen Seite und auch der Öffentlichkeit ein klares Verständnis des Konzepts des »De-Risking« vermitteln, das in den letzten Monaten zum gemeinsamen Leitstern Europas und der USA zum Umgang mit China aufgestiegen ist. Olaf Scholz kann sich zugutehalten, diesen Begriff früh in die Debatte gebracht zu haben, weit bevor EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan »De-Risking« in zwei Reden im Frühjahr in den Mittelpunkt stellten. »De-Risking« ist ein attraktives und erfolgreiches Konzept, weil es einen breiten Interpretationsspielraum bietet und viele Fragen offenlässt. Schon die Übersetzung ins Deutsche ist unklar: Geht es um Risikominimierung (so übersetzt Außenministerin Baerbock den Begriff) oder bloße Risikoverminderung? Um welche Risiken geht es? Welche Mittel und welche Geschwindigkeit beim »De-Risking«? Die chinesische Seite, welche den Begriff kritisch sieht, wird den deutschen Gesprächspartner höchstwahrscheinlich Nachfragen stellen. Und da ist es wichtig, dass Scholz und alle Minister ein einheitliches und ambitioniertes Verständnis von »De-Risking« kommunizieren.
Dieses sollte Minimierung von Erpressbarkeit bei kritischen Rohstoffen, Marktabhängigkeiten und Lieferketten genauso umfassen wie den Schutz kritischer Infrastruktur – sowie gezielte Kontrollen von Technologiekooperation in Bereichen, die China zur Stärkung seiner militärischen Fähigkeiten nutzen kann. Denn zu den zentralen Risiken gehört auch, dass Deutschland Peking mit den Technologien versorgt, die es für seine ambitionierten Aufrüstungspläne benötigt. Die jüngsten Berichte, wie die Universität Heidelberg eine Rolle in Pekings Strategie beim Aufbau militärisch nutzbarer Fähigkeiten im Bereich der Quantenkommunikation spielte , machen dies deutlich. »De-Risking« kann in Bereichen, in denen Peking führend ist (wie etwa in der Solar- und Batterieproduktion), durchaus auch die Ermutigung chinesischer Investitionen in Deutschland umfassen. Es ist weniger riskant für Deutschland, von chinesischer Solar- und Batterieproduktion in Europa abhängig zu sein als von reinen Importen aus China bei diesen Schlüsseltechnologien der Energiewende. Jedoch sollte der Kanzler jeglichen Avancen von chinesischer Seite, das von Kanzlerin Merkel verhandelte »Comprehensive Agreement on Investment« (CAI) wiederzubeleben, eine klare Absage erteilen. Peking ist am CAI vor allem interessiert als Instrument, um einen Keil zwischen Europa und die USA zu treiben.
Bei seinem Abendessen mit dem chinesischen Premier am Montagabend sollte der Kanzler auch im vertraulichen Rahmen klare sicherheitspolitische Botschaften senden. Dazu gehört, dass Deutschland es mit Sorge sieht, dass Peking bislang nicht substanziell zu Gesprächen über Rüstungskontrolle in zentralen strategischen Bereichen bereit ist. Es kappt zu oft direkte militärische (wie auch politische) Gesprächskanäle mit den USA zur Bestrafung Washingtons, statt in Leitplanken und vertrauensbildende Maßnahmen zu investieren.
Pekings Unterstützung für Moskau greift deutsche Interessen an
Scholz sollte auch deutlich machen, dass trotz der Nichterwähnung Taiwans in der nationalen Sicherheitsstrategie, Deutschland es als zentrale Herausforderung sieht, den friedlichen Status quo in der Straße von Taiwan zu bewahren und Peking von der Anwendung von Gewalt abzuschrecken. Schließlich sollte Scholz noch einmal deutlich machen, dass direkte militärische Unterstützung Pekings für Moskau im Krieg gegen die Ukraine europäische Kerninteressen massiv angreift. Deutschland ist für eine konstruktive Rolle Pekings bei der Beendigung des Kriegs gegen die Ukraine höchst offen, so sollte die Botschaft sein; doch bislang spricht Chinas Vertiefung der Beziehungen mit Moskau seit Kriegsbeginn und der pompöse Staatsbesuch Xis bei Putin im März eine andere Sprache.
Pompös hätte Peking auch gern die Regierungskonsultationen mit Deutschland, um ein Signal zu senden, dass man mit Deutschland, anders als mit dem Erzfeind USA, bestens zusammenarbeitet. Es ist deshalb der richtige Schritt der deutschen Regierung, die chinesische Seite darauf zu drängen, den Umfang der Delegation und der teilnehmenden Minister zu reduzieren, um einen Kontrapunkt zur Ära Merkel zu setzen.
Ein weiterer wichtiger symbolischer Akzent ist die stärkere europäische Ausgestaltung der deutsch-chinesischen Regierungsverhandlungen. Darauf haben sich die Ampelpartner im Koalitionsvertrag festgelegt. Dies ist für die Glaubwürdigkeit Deutschlands in Europa zentral. Jahrelang hat Berlin gegen das 16+1‑Format der mittel- und osteuropäischen Staaten mit Peking gewettert, ohne das eigene 1+1‑Format mit Peking auch nur in Zweifel zu ziehen.
Im Rest Europas kommt dies wahlweise als scheinheilig oder schizophren an. Als Gegengift reicht es nicht aus, wie das Kanzleramt anzunehmen scheint, die europäischen Partner vorher zu konsultieren und nachher zu informieren. Deutschland sollte künftig Vertreter aus Brüssel und einigen europäischen Partnerländern zu den Regierungskonsultationen in den unterschiedlichen Themenbereichen als Gäste einzuladen. Dies würde verdeutlichen, dass nicht »Germany First«, sondern »Europe United« das Motto der deutschen Chinapolitik ist.
The commentary was originally published in DER SPIEGEL on June 18, 2023.