Diese Lehren muss Scholz ziehen, will er gegen China bestehen
Anfang November reist Olaf Scholz zu seinem Antrittsbesuch nach Peking. Im Schlepptau hätte der Kanzler dabei gerne eine Wirtschaftsdelegation, für die CEOs derzeit ihr Interesse bekunden können. Noch ist unklar, ob und unter welchen Bedingungen Wirtschaftsvertreter angesichts der strengen Null-Covid-Politik überhaupt nach China kommen dürften. Doch allein mit der Einladung sendet Scholz das fatale Signal, dass er die wirtschaftliche Verflechtung mit China weiter steigern möchte. Dies ist genau die falsche Lehre aus dem Totalschaden der Russlandpolitik, für den wir gerade einen hohen Preis bezahlen.
Mit Blick auf China droht uns eine noch viel höhere Rechnung, weil die Abhängigkeiten viel weitreichender und komplexer sind – mit Blick auf Absatzmärkte als auch auf die Lieferung von dringend benötigten Rohstoffen und industriellen Vor- und Zwischenprodukten. Der Kanzler sollte sich darauf konzentrieren, die Verflechtungsrisiken zu verringern, statt deutsche Wirtschaftsführer in ihren gefährlichen Illusionen der Verflechtung zu bestärken.
Die Illusionen der Verflechter
Als Kanzlerkandidat argumentierte Olaf Scholz im Sommer 2021, dass »ökonomische Verflechtung ein zivilisatorischer Fortschritt ist, wenn wir sie politisch gestalten«. Im Versprechen des zivilisatorischen Fortschritts schwingt der Glaube an wirtschaftliche Verflechtung als segensreiche Kraft mit, der in den vergangenen 30 Jahren im Zentrum deutscher Politik stand. Formeln wie das aus der Entspannungspolitik übernommene »Wandel durch Handel« oder »Wandel durch Verflechtung« (so das Update aus dem Jahr 2005) adelten das Profitstreben deutscher Unternehmen mit dem Versprechen, gleichzeitig für eine Öffnung und Entwicklung hin zur Demokratie zu sorgen. Wirtschaftsvertreter konnten sich beim Geldverdienen in Russland und China als Agenten des Guten wähnen. Als »Diplomaten der Wirtschaft« feierten sich etwa die Vertreter des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.
In der Russlandpolitik ist dieser Ansatz katastrophal gescheitert. Mit Blick auf die andere autoritäre Großmacht China verweigern tonangebende deutsche Wirtschaftsführer dennoch jedes Umdenken.
Irritierend ist, dass viele so tun, als ob die Alternative zu ihrem Kurs der immer tieferen Verflechtung die völlige Entkopplung von China wäre. Doch niemand vertritt diese Position. Stattdessen ist es China, das seit Jahren sehr strategisch eine selektive Entkopplung vorantreibt. Pekings Ziel ist dabei, eigene Verwundbarkeiten zu reduzieren, die Wertschöpfung im eigenen Land zu maximieren sowie die Dominanz im riesigen Heimatmarkt als globalen Wettbewerbsvorteil für chinesische Unternehmen zu nutzen. In einer Rede im April 2020 sagte Xi sehr klar, dass man in allen sicherheitsrelevanten Bereichen in der Produktion vom Ausland unabhängig werden will. Gleichzeitig müsse man die »Abhängigkeit internationaler Produktionsketten von China verstärken zur Bildung einer starken Abschreckungs- und Vergeltungsfähigkeit gegen Ausländer«. Deshalb schärft Peking schon jetzt seine Fähigkeiten, Abhängigkeiten wie Marktzugang als Waffe zu benutzen. Ende 2021 etwa blockierte Peking Güter, die in Litauen produziert werden oder litauische Komponenten enthalten, darunter auch Waren des deutschen Herstellers Continental. Dieser fundamentale Angriff auf den europäischen Binnenmarkt erfolgte als Vergeltung dafür, dass Litauen die Vertretung Taiwans diplomatisch aufgewertet hatte.
China belohnt Loyalität
Zwar schauen viele Mittelständler mittlerweile kritisch auf die Risiken des Chinageschäfts und der BDI hat China zum »systemischen Wettbewerber« erklärt. Doch die CEOs der Großunternehmen mit den größten Abhängigkeiten von China kämpfen unermüdlich gegen jede Abkehr des Kurses stärkerer Verflechtung. Dazu gehört BASF-Chef Martin Brudermüller, der jüngst davor warnte, China und Russland »in einen Topf zu werfen«. Er sagte, wer nicht mehr miteinander Handel treibe und spreche, »kann gar keinen Einfluss mehr nehmen«. Peking belohnt Brudermüller mit Sonderbehandlung. Zur feierlichen Eröffnung der ersten Stufe der Zehn-Milliarden-Euro-Investition in Zhangjiang im September sprach neben Martin Brudermüller der chinesische Vizepremier Hang Zheng. Brudermüllers Treue wurde mit einer höchst seltenen Ausnahme von der strengen Null-Covid-Politik belohnt. Der BASF-Chef durfte ohne Quarantäne nach China reisen.
Besondere Peking-Treue stellt auch die Volkswagenführung unter Beweis. Die VW-Bosse halten, der Realität komplett entrückt, mit Verve an den Illusionen über »Wandel durch Handel« fest, so etwa der damalige VW-Vorstandschef Herbert Diess in einem Interview im Juni. Über den 20. Parteikongress der Kommunistischen Partei in der kommenden Woche, der Xis Krönungsmesse zum Führer ohne Amtszeitbegrenzung ist, sagte er, dieser »dürfte eine weitere Öffnung bringen. China wird sich auch im Wertesystem weiter positiv entwickeln. Wir können einen Beitrag zum Wandel leisten, indem wir vor Ort vertreten sind«. Sein Nachfolger Oliver Blume verteidigte Anfang September 2022 das VW-Werk in Xinjiang mit der schönsten Illusionspoesie: »Es geht darum, unsere Werte in die Welt zu tragen. Auch nach China, auch in die Uigurenregion«.
Mit größerer Nüchternheit argumentieren Wirtschaftsführer, dass umfassende Verflechtung mit China der einzige Weg sei, globale Probleme wie die Klimakrise anzugehen. BASF-Chef Brudermüller beispielsweise behauptet: »Wenn China beim Klimaschutz nicht mitmacht, wird er nicht funktionieren. Die bauen dann weiter Kohlekraftwerke«. Das übersieht: Klimapolitische Entscheidungen trifft China auf der Basis eigener Interessen. Peking wird kein Kohlekraftwerk mehr oder weniger bauen, wenn wir in anderen Feldern Verflechtungsrisiken abbauen.
Lehren aus der falschen Rationalitätsannahme
Ein grundlegendes Umdenken mit Blick auf China sollte mit der wichtigsten Lehre aus der Russlandpolitik beginnen: Wir sollten Ideologie und Machtstreben nicht unterschätzen und der anderen Seite nicht unsere eigenen Rationalitätsannahmen unterstellen. Wir können uns nicht noch einmal damit beruhigen, dass die Abhängigkeiten mit China wechselseitig sind und die chinesische Führung selbst sehr viel zu verlieren hat. Bei Russland gab es ebenfalls eine ausgeprägte wechselseitige Abhängigkeit. Deutschland war von russischem Gas abhängig, der Kreml von unserem Geld sowie Technologie. Die Kosten des Verzichts auf westliche Einnahmen und Technologie sind sogar höher als die unseres Verzichts auf russische Energie. Doch Wladimir Putin war für seine imperial-machtpolitischen Ziele bereit, weit höhere Kosten in Kauf zu nehmen, als unsere Annahmen vorsahen. Das erlaubte es ihm, Abhängigkeiten im Energiebereich als Waffe einzusetzen. Zudem müssen wir uns vorhalten, durch Verflechtung den Aufbau von Putins Kriegsmaschinerie erst ermöglicht zu haben.
Xi stellt totalitäre Ideologie wieder in das Zentrum der KP-Herrschaftspraxis und sieht sich dabei im Kampf mit den USA und dem Westen. Peking bekräftigte jüngst das Ziel, Taiwan baldmöglichst friedlich, aber wenn nötig auch mit Gewalt unter Kontrolle zu bekommen. Auch wenn eine Blockade oder ein Angriff auf Taiwan aus unserer Sicht nicht rational sein mag, weil Peking damit einen großen Teil seiner wirtschaftlichen Prosperität aufs Spiel setzt, müssen wir darauf vorbereitet sein. Die Schockwellen würden die Invasion der Ukraine in den Schatten stellen. Wir hätten mit einem direkten Krieg zwischen Deutschlands Schutzmacht USA und China zu tun. Wie US-Präsident Biden mehrfach versichert hat, würden US-Truppen bei einem Angriff auf der Seite Taiwans kämpfen. Eine nahezu vollständige wirtschaftliche Abkopplung mit China und ein Komplettverlust aller deutschen Investitionen wären die Folge.
Rekalibrierung der Verflechtung
Die politische Gestaltung der Verflechtung, die Scholz angemahnt hat, setzt eine Rekalibrierung der Verflechtungen mit China in vier Schritten voraus:
- In einem ersten Schritt sollten die Abhängigkeiten auf Unternehmensebene wie gesamtwirtschaftlich klar erfasst und einem Stresstest unterzogen werden, ob Unternehmen, Branchen und Lieferketten den Schock einer Abkopplung von China im Kriegsfall absorbieren könnten.
- In einem zweiten Schritt sollten konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkeiten durch Diversifizierung vorangetrieben werden. Politisch sollte die Regierung das Risiko für China-Investitionen klar an die Unternehmen zurückgeben. Deshalb sendet die Mitnahme einer Wirtschaftsdelegation bei der Kanzlerreise genau das falsche Signal. Bei Rohstoffen und industriellen Vor- und Zwischenprodukten erschließt die Regierung aktuell gemeinsam mit der Wirtschaft bereits alternative Quellen. Vorgaben müssen sicherstellen, dass Unternehmen Abhängigkeiten von China reduzieren, auch wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist. Daheim ist es gerade bei kritischer Infrastruktur zentral, keine weiteren Abhängigkeiten einzugehen, sei es bei Huawei und 5G oder Cosco und dem Hamburger Hafen.
- In einem dritten Schritt sollte die Regierung sicherstellen, dass deutsche Unternehmen keinen Beitrag zum Aufbau chinesischer Kapazitäten im Militär- oder Repressionsapparat leisten.
- Viertens muss Deutschland mit Partnern in glaubwürdige Abschreckung Pekings investieren, den friedlichen Status quo zu Taiwan nicht durch Zwang und Gewalt zu verändern.
Die Rekalibrierung kann gelingen, wenn wir in eigene Innovationskraft investieren. Für BASF und VW ist China aktuell das profitabelste Geschäft weltweit. Ein Umsteuern wird mit beträchtlichen Kosten verbunden sein. Aber wenn wir jetzt nicht umsteuern, wird die Rechnung am Ende nur viel höher sein. Das haben wir bei Russland auf die harte Tour gelernt.
This commentary was orignially published in DER SPIEGEL on October 12, 2022.