Die Untergangsängste der Kanzlerin
Warum Angela Merkel die Konfrontation mit China scheut
Vor zehn Jahren, im Juni 2011, ehrte US-Präsident Barack Obama Angela Merkel als europäische Gallionsfigur für die Freiheit. Bei einem Staatsbesuch im Weißen Haus überreichte er ihr die Presidential Medal of Freedom und würdigte sie als „eloquente Stimme für Menschenrechte und Menschenwürde in der Welt“. Ihren Abschiedsbesuch in Washington letzte Woche absolvierte Merkel in einer ganz anderen Rolle: als wichtigste Gegenspielerin der Chinapolitik von US-Präsident Biden. Davon konnten auch die zwischen Biden und Merkel ausgetauschten Höflichkeiten nicht ablenken.
Dass sich die freie Welt in einer epocheprägenden Auseinandersetzung mit dem immer selbstbewusster auftretenden Autoritarismus Pekings befindet, gehört zu den wenigen Dingen, auf die sich Demokraten und Republikaner in den USA einigen können. Merkel hingegen stemmt sich im Herbst ihrer Kanzlerschaft mit aller Macht gegen eine einheitliche transatlantische Front gegenüber China. Sie arbeitet mit Hochdruck an der Vertiefung der deutschen Wirtschaftsbeziehungen mit China.
Das von der Kanzlerin Ende 2020 durchgeboxte EU-Investitionsabkommen mit China war Merkels Willkommensgeschenk an Biden. Ihre ehemals eloquente Stimme für die Freiheit blieb stumm, als Peking im März Sanktionen gegen deutsche und europäische Volksvertreter und Wissenschaftler verhängte. Es ist nicht nur die Sorge um deutsche Exportmärkte, welche die Kanzlerin dazu brachte, diese präzedenzlose Attacke Pekings auf zentrale Institutionen der Demokratie einfach hinzunehmen. Merkels Chinapolitik speist sich aus einem tiefen Pessimismus. In einer Welt, in der die USA keine verlässlichen Verbündeten mehr sind, hat ein fragiles Europa in ihren Augen weder die Macht noch die Kraft, sich Peking entgegenzustemmen.
Merkels defätistische Chinapolitik ist Resultat einer bemerkenswerten Transformation. Die Kanzlerin startete mit beachtlichem Selbstbewusstsein gegenüber Peking. 2007 empfing sie den Dalai Lama im Kanzleramt. Kritikern beschied Merkel: „Als Bundeskanzlerin entscheide ich selbst, wen ich empfange und wo.“ Und für Peking hatte Merkel noch einen bissigen Ratschlag parat: „Das Beste wäre, wenn die chinesische Führung selbst das Gespräch mit dem Dalai Lama suchen würde, dem es um kulturelle Autonomie und die Wahrung der Menschenrechte geht.“
Bei ihren jährlichen Chinabesuchen zögerte Merkel nie, menschenrechtliche Anliegen vorzubringen. Sie hat keinerlei Illusionen über die zunehmende Repression unter Xi Jinping. Jegliche Träume von „Wandel durch Handel“ scheint sie hinter sich gelassen zu haben. Und Merkel schielt sicherlich nicht auf lukrative Verträge, um ihre engen Kontakte zu China als Altkanzlerin zu Geld zu machen.
Sicherlich sorgt sich die Kanzlerin um die wenigen deutschen Großunternehmen wie Daimler und Volkswagen, die sich zu stark vom chinesischen Markt abhängig gemacht haben und deren Chefs einen kurzen Draht zum Kanzleramt haben. Dies beeinflusst Merkels Entscheidungen, auch wenn vitale Sicherheitsinteressen in der kritischen Infrastruktur auf dem Spiel stehen. So war die Sorge um Vergeltung gegen deutsche Unternehmen sicherlich ein Faktor für Merkels hartnäckigen Einsatz gegen den Ausschluss des Hochrisikoanbieters Huawei vom 5G-Netz. Auch ist sie davon überzeugt, dass jegliche Versuche, Pekings Hegemonialstreben entschieden einzuhegen, nur konfliktverschärfend wirken, weil China mit aller Macht zurückschlagen wird.
Doch die Kanzlerin treibt eine tiefer sitzende Angst an. Sie hält Deutschland und das fragile Gebilde Europa für zu schwach im Wettbewerb mit China. Sie ist skeptisch ob der Zukunftsaussichten eines Kontinents, der aus ihrer Sicht nur noch bei den Sozialausgaben Weltspitze ist.
Wie ihr Biograph Stefan Kornelius schon 2013 urteilte, befürchtet Merkel, „dass das freiheitliche System nicht überleben könnte, dass Demokratie und Marktwirtschaft am Ende zu schwach sein könnten“. Merkel redet kaum darüber. Manchmal bekommt die Öffentlichkeit einen kleinen Einblick. So berichtete Merkels bulgarischer Amtskollege Borissow nach einem Besuch während der Eurokrise, die Kanzlerin habe bemerkt, „dass auch die Maya und viele andere Zivilisationen verschwunden sind“.
Merkel ist keineswegs blind gegenüber den inneren Widersprüchen des chinesischen Parteistaats, doch zeigte sich immer wieder tief beeindruckt von der Entschlossenheit, mit der die KP-Führung ihre Entwicklungsziele verfolgt. Der „Spiegel“-Journalist René Pfister beobachtete: „In Gedanken ist Merkel eine Revolutionärin, sie findet, dass alles viel schneller gehen muss, in Europa, in Deutschland.“ Doch die Blockaden und die Selbstverliebtheit in den Status Quo – vor allem der Westdeutschen – verhinderten dies in ihren Augen. Eines von Merkels größten Versäumnissen ist es, dass sie nie versucht hat, politische Unterstützung für ein ambitioniertes Reformprogramm zu gewinnen. Stattdessen wählte sie die innere Emigration für ihr Revoluzzertum.
Merkels Angst wird dadurch verstärkt, dass sie die USA nicht mehr für verlässlich hält. Sie hat die plausible Befürchtung, dass der nächste Präsident, der Europa wie Trump als Gegner sieht, schon vor der Tür steht. 2017 brachte Merkel dies in Trudering auf den Punkt: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. (…) Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“ Doch für Merkel heißt dies weniger Investitionen in die eigene Stärke denn Maximierung des Spielraums dadurch, dass man alles tut, um Peking nicht zu verärgern.
Wenn man sich selbst nicht als wettbewerbsfähigen Spieler sieht, bleibt nur die Rolle einer großen Schweiz als quasi-neutrales Gebilde im Wettstreit der Großmächte. Doch Merkels Kurs der vorauseilenden Selbstverzwergung riskiert, dass man eines Tages feststellt, dass man keinen Handlungsspielraum mehr hat. Ein bisschen wie die Schweiz zwischen 1939 – 1945, die in den Worten eines zeitgenössischen Kritikers einen „frömmlerischen Kapitulantenkurs“ verfolgte
Die wichtigsten Zutaten einer besseren Chinapolitik sind Ambition und Selbstvertrauen. Sie kettet sich nicht blind an Washington, sondern glaubt daran, dass Deutschland und Europa aus eigener Kraft bestehen können. Dass wir das entwickeln können, was es braucht, um den Wettbewerb mit Pekings autoritärem Staatskapitalismus zu gewinnen und unsere Interessen mit Entschiedenheit zu vertreten – wann immer möglich mit Verbündeten. Das hieße, unser Schicksal wirklich in die eigene Hand zu nehmen.
Wir sind keineswegs zu abhängig von China dafür. Dass wir ein Handelsbilanzdefizit mit China haben, zeigt das. Für ein Ambitionsdefizit gibt es keinen Grund. Wir brauchen einen psychologischen Kurswechsel, der den Defätismus Merkels hinter sich lässt. Oder um es mit der Kanzlerin selbst zu sagen, die 2010 im Rückgriff auf Wolf Biermann formulierte. „Mut fängt mit der Überwindung der eigenen Verzagtheit an”.
This commentary was first published in Tagesspiegel on July 23, 2021.
It is part of a project on re-thinking European China policy supported by the Open Society Foundations (OSF).