Europa und China: Die Gratwanderung
Die Coronavirus-Epidemie ist ein eindrückliches Beispiel für das, was der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan als „Probleme ohne Pässe“ bezeichnet hat. Hochansteckende Krankheiten machen vor nationalen Grenzen keinen Halt. Wir sind auf die Zusammenarbeit aller Staaten angewiesen, gleich welche politischen Differenzen diese auch trennen. Dabei ist China von zentraler Bedeutung. Dies gilt für die Bekämpfung von Epidemien genauso wie für die Klimakrise: ohne China, das ein Fünftel der Weltbevölkerung stellt und schon jetzt einen höheren CO-Ausstoß hat als Europa und die USA zusammen, gibt es keine Lösung.
Wir müssen die Kooperation mit dem Partei-staat mit Blick auf globale öffentliche Güter wie die Seuchenbekämpfung und den Klimaschutz forcieren. Das heißt jedoch nicht, dass wir uns des- halb Peking anbiedern müssen. China hat ein starkes Eigeninteresse an Kooperation bei globalen Herausforderungen, da es von Seuchen und den Auswirkungen der Klimakrise selbst stark betroffen ist. Unsere Interessen im Systemwettbewerb mit dem autoritären Staatskapitalismus chinesischer Prägung können und sollten wir mit Nach- druck verteidigen, während wir die Zusammenarbeit bei globalen Herausforderungen intensivieren. Mit Blick auf Covid-19 heißt dies: Wir können uns mit Macht gegen antichinesischen Rassismus stemmen, die Leiden und Leistungen von Chinesinnen und Chinesen bei der Bekämpfung des Coronavirus anerkennen und Kooperation von Regierungsstellen und Expertinnen und Experten forcieren, ohne uns zum Sprachrohr der Parteistaats- narrative zu machen.
Die offizielle chinesische Erzählung ist klar. Für die People’s Daily verdeutlicht die Bekämpfung des Virus „die offensichtliche Überlegenheit der Führung der Kommunistischen Partei und des Systems des Sozialismus mit chinesischen Charakteristika.“
Die Propagandabehörde hat jüngst ein hagiografisches Buch mit dem Titel „Kampf gegen die Epidemie“ veröffentlicht. Dieses Buch, das auch in englischer Ausgabe erscheinen wird, zeigt laut Ankündigung der Nachrichtenagentur Xinhua, wie Xi Jinping „seinen Einsatz für das Volk, seine weit- reichende strategische Vision und herausragende Führungskraft“ unter Beweis gestellt hat im Einsatz gegen das Virus. Ob diese Propaganda das eigene Volk überzeugen wird, das offen wie selten zuvor auf sozialen Medien Kritik an der Handlungsfähigkeit des Parteistaats geübt hat, ist offen. International führt Peking eine aggressive Kampagne gegen all diejenigen, welche fehlende Transparenz und Vertrauen in die Handlungen der chinesischen Regierung kritisieren. In Nepal etwa attackierte der chinesische Botschafter eine Zeitung, weil diese einen kritischen Gastkommentar zur mangelnden Offenheit und Vertrauenswürdigkeit der chinesischen Regierung zu Beginn der Epidemie veröffentlichte. Und Peking verwies drei Wall Street Journal Journalisten des Landes, weil die Zeitung einen Kommentar mit dem historisch aufgeladenen Titel „China als der wahre kranke Mann Asiens“ veröffentlichte. Die chinesische Regierung sorgte auch dafür, dass Taiwan bei Krisentreffen der Weltgesundheitsorganisation WHO nicht mit am Tisch sitzen darf. Vor diesem Hintergrund ist es fatal, wie sich der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus an Peking anbiedert. Er sagte, dass „China einen neuen Standard für die Antwort auf einen Ausbruch“ setze und lobpreiste die Regierung für ihre „Transparenz“. Auch Ghebreyesus’ Berater Bruce Aylward, der eine WHO-Delegation ins Krisengebiet leitete, übt sich in Superlativen, auch mit Blick auf den Einsatz von Technologien. Derart undifferenzierte Beweihräucherung ist gefährlich, auch weil zu befürchten steht, dass „einige der außergewöhnlichen Maßnahmen zur Krisenbekämpfung wie weitreichende Informationskontrolle und digitale Überwachungstechniken zur Normalität in China werden könnten“, wie es Merics-Direktor Mikko Huotari formulierte.
Auch beim Klimaschutz sollte gelten: Wir sollten die Kooperation mit China suchen, ohne dafür die Konfrontation bei anderen Themen, sei es Technologie, Sicherheit, Handelspraktiken oder Menschenrechte, zu scheuen. Doch genau das legen einige Stimmen auf beiden Seiten des Atlantiks nahe. Stephen Wertheim, einer der prominenten linken Stimmen zur Außenpolitik in den USA und Mitgründer des neuen Thinktanks Quincy Institute, sagte etwa mit Blick auf den Wettbewerb zwischen den USA und China: „Das amerikanische Volk kann mit einem autoritären China leben. Es kann nicht auf einer unbewohnbaren Erde leben.“ Das hört sich so an, als ob man den Vormarsch des Autoritarismus des Parteistaats nicht zu ernst nehmen sollte angesichts der Klimakrise. Und mit Blick auf Kritik an China mahnte BASF-Chef Brudermüller Ende letzten Jahres „eine echte, ehrliche, gesellschaftliche Diskussion über alle Konsequenzen“ an. Er erinnerte daran, dass viele Arbeitsplätze in Deutschland von China abhängen. Und er brachte die Klimakrise ins Spiel: „Wenn China beim Klimaschutz nicht mitmacht, wird er nicht funktionieren. Die bauen dann weiter Kohlekraftwerke.“ Das legt den Schluss nahe, dass China aus Trotz Kohlekraftwerke baut, wenn die politischen Beziehungen in anderen Bereichen angespannt sind. Doch die Parteiführung handelt beim Klimaschutz aus Eigeninteresse, nicht weil wir handzahm und gefügig sind. Die Parteistaatselite ist davon überzeugt, dass China von den Auswirkungen der Klimakrise stark betroffen sein wird. Zudem gibt es Druck aus der Bevölkerung für eine Verringerung der Luftverschmutzung – etwa durch alte Kohlekraftwerke.
Zweifelsohne bestehen Wechselwirkungen zwischen sicherheits- und klimapolitischen Erwägungen auf chinesischer Seite. Dass China Kohle nicht aufgibt, hat auch mit Energiesicherheit zu tun. Kohle ist in China vorhanden und somit ist die Versorgungssicherheit weniger gefährdet. Und jeder, der einer Entkopplung Chinas von der westlichen Wirtschaft das Wort redet, sollte sich bewusst sein, dass dies eine schlechte Nachricht für die Produktion kohlenstoffarmer Technologien wäre, wie die Forscher John Helveston und Jonas Nahm gezeigt haben. China produziert gegenwärtig zwei Drittel aller Solarzellenplatten, ein Drittel aller Windturbinen und drei Viertel aller Lithium-Ionen-Akkus. Diese dominante Marktposition ist auch Resultat von Verletzungen geistiger Eigentumsrechte und fairer Handelspraktiken. Dennoch sollten wir bei der Produktion dieser Technologien nicht komplett auf die Kostenvor- teile Chinas verzichten. Je billiger diese Technologien in großer Zahl verfügbar sind, desto schneller werden sie flächendeckend eingesetzt.
Deutschland und Europa sollten die klimapolitische Kooperation mit China intensivieren. Gleich- zeitig sollten wir uns keine Illusionen über die Hürden machen. Ein gemeinsamer europäisch-chinesischer „Green New Deal“ ist nicht nur in weiter Ferne, weil unklar ist, ob Europa damit ernst macht. Gegenwärtig ist China größter Exporteur und Finanzier von Kohlekraftwerken – oft mit überalterter, besonders schädlicher Technologie. Chinas gigantische „Belt and Road“ Initiative hat eine sehr schlechte Klimabilanz. Und ein Zusammenschluss der Emissionshandelssysteme Chinas und Europas, wie es der Klimaforscher Ottmar Edenhofer fordert, wirft grundlegende Fragen auf, wie ein marktwirtschaftliches System mit einem staats- kapitalistischen Instrument fusionieren kann, ohne dass dafür die notwendige Transparenz und das erforderliche Vertrauen gewährleistet sind.
Ja, wir sollten die Kooperation mit China beim Angehen der Klimakrise zu intensivieren versuchen. Aber China wird kein Kohlekraftwerk weniger exportieren, nur weil wir nicht reagieren, wenn der Parteistaat unsere Interessen in anderen Bereichen verletzt. Wir können und müssen beides: robust unsere Interesse gegenüber China vertreten und Grundlagen für eine robuste Zusammenarbeit zum Angehen gemeinsamer Probleme schaffen.
Das sollte auch die Maxime im Bereich des Multilateralismus sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte bei der Entgegennahme des Kissinger-Preises in der American Academy im Januar, „dass wir nicht in eine neue Bipolarität verfallen, sondern versuchen, mit dem, was wir an Ergebnissen, an Erfahrungen im Multilateralismus haben, auch ein Land wie China einzubeziehen und zumindest gleichwertig zu behandeln“. China Daily streute den Videoclip weit auf sozialen Medien. Es ist leicht zu verstehen, warum das Parteistaatsorgan von Merkels Äußerung so begeistert war. Es spielt Chinas Opfernarrativ, dass die USA das Land ungerecht behandeln, in die Hände. Merkel insinuiert, dass China nicht im Multilateralismus eingebunden ist und nicht gleichwertig behandelt wird. Beides stimmt nicht. China ist ständiges Mitglied im Sicherheitsrat und in vielen UN-Sonderorganisationen mit Spitzenpersonal prominent vertreten. Ja, im IWF sollte China mehr Gewicht haben, aber ansonsten wird der Parteistaat nicht ungleichwertig behandelt. Wenn China Menschenrechte verletzt, dann gibt es keinen Grund, dies nicht auch so zu benennen. Und wenn China dem Geist der WTO-Vereinbarungen systematisch zu- widerhandelt durch staatskapitalistische Praktiken, dann sollten wir dies angehen statt wegzuschauen. Der Parteistaat versucht beständig, die universelle Geltung der Menschenrechte in UN-Gremien zu unterminieren. Peking gründet selbstbewusst multilaterale Organisationen wie die Asian Infrastructure Development Bank und verfolgt primär bilaterale Initiativen wie Belt and Road, die es in ein multilaterales Gewand kleidet, indem es alle beteiligten Staaten jährlich zu einem Forum in Peking zusammenbringt. Das macht China nicht, weil es vom Westen nicht einbezogen wurde, sondern weil es ein statusbewusstes Land ist, für das der bedingungslose Machtanspruch der kommunistischen Partei zentral ist.
Diese Erkenntnis muss für die Gestaltung der Zusammenarbeit in dem, was auch die EU-Kommission als Systemwettbewerb mit China bezeichnet hat, handlungsleitend sein. Die aktuelle Corona-Krise hat uns dabei die Verflechtungen zwischen China und Europa noch einmal vor Augen geführt. Dabei wird auch deutlich, dass nicht alle Verflechtungen naturgegeben sind wie bei Krankheiten oder der Klimakrise. Verflechtungen mit Blick auf Lieferketten oder auch Technologien sind Resultat bewusster Entscheidungen. Erst jetzt wird einem Großteil der Bevölkerung deutlich, dass wir uns etwa bei der Produktion aktiver Wirkstoffe für Medikamente fast ausschließlich auf China verlassen. Das sollte zu denken geben, denn Großmächte nutzen Verflechtungen gern als Druckmittel. Die US-Politikwissenschaftler Abraham Newman und Henry Farrell bezeichnen dieses Phänomen als „weaponized interdependence“: Verflechtung als Waffe. Deutschland und die EU tun also gut daran, zu prüfen, wo man Verflechtun- gen und Abhängigkeiten gegenüber China reduzieren sollte. Das heißt beispielsweise, sich bei kritischer Infrastruktur wie dem 5G-Mobilfunknetz nicht von chinesischer Technologie abhängig zu machen. Für die Kooperation in anderen Bereichen wie im Klimaschutz muss dies nicht schädlich sein. Abhängigkeiten in sensiblen Bereichen schüren nur Misstrauen, was Kooperation in anderen Bereichen nicht leichter macht.
Zusammenarbeit bei globalen öffentlichen Gütern wie Klimaschutz und Gesundheitsschutz ist gleichzeitig eine Chance für den Ausbau zwischen gesellschaftlicher Kontakte über gemeinsame Forschungs‑, Dialog- und Begegnungsprogramme. Aufgrund der Natur des Parteistaats mit seinem umfassenden Kontrollanspruch sind solche Programme mit China besonders anspruchsvoll in Vorbereitung und Durchführung. Aber die Investitionen in Risikomanagement und Vor- und Nachbereitung lohnen sich. Nur so können wir die Menschen auf der anderen Seite und die Unterschiede der Systeme besser verstehen lernen. Im Idealfall können wir gemeinsam nach Antworten auf die globalen Probleme suchen, welche Bürger in China wie in Europa betreffen – oder uns zumindest darüber verständigen, was der gemeinsamen Lösungssuche im Weg steht.
This commentary was originally published in Tagesspiegel Causa on March 8, 2020.