Multilateralismus: Sechs Thesen auf dem Prüfstand
Eine „neue Weltordnung“ hatte man sich nach dem Ende des Kalten Krieges erträumt, ohne größere geopolitische Animositäten. Heute steht die Idee, die Probleme der Welt gemeinsam zu lösen, massiv unter Druck. Erleben wir den endgültigen Niedergang des Multilateralismus? Was kann die von Außenminister Heiko Maas angestrebte Allianz für Multilateralismus ausrichten? Sechs Thesen auf dem Prüfstand.
„Wir erleben derzeit das Ende des Multilateralismus“
Nein, nur das Ende multilateraler Gewissheiten. Mitte September versammelten sich in New York am Rande der UN-Generalversammlung über 50 Außenminister für den offiziellen Startschuss der „Allianz für Multilateralismus“. Die große Resonanz auf die deutsch-französische Initiative macht deutlich, dass mehr Nationalismus und wachsende geopolitische Rivalitäten nicht das Ende des Multilateralismus bedeuten.
Im Gegenteil: In einer Welt, in der Großmächte ihre militärischen und wirtschaftlichen Zwangsmittel immer direkter zum eigenen geopolitischen und geoökonomischen Vorteil einsetzen, ist Multilateralismus für kleinere Staaten und auch für Mittelmächte wie Deutschland unverzichtbares Gegenmittel. Gleichzeitig sehen sich Verfechter dieses Instruments mit dem Ende multilateraler Gewissheiten konfrontiert. Noch vor zehn Jahren wären Spekulationen über ein Ende der NATO, EU oder WTO als absurd belächelt worden. Heute kann Deutschland nicht mehr sicher sein, ob diese für das Land zentralen multilateralen Institutionen auch noch in zehn Jahren Bestand haben.
Bislang garantierten die USA die von ihnen maßgeblich ins Leben gerufenen multilateralen Institutionen. Ohne die Unterstützung Amerikas wäre die Schaffung von UN, NATO, WTO und EU nicht denkbar gewesen. Unter Präsident Donald Trump drohen die USA diesen Einrichtungen nun mit der Abrissbirne. Doch das ist nicht die einzige Gewissheit, die heute verloren ist.
Nach dem Ende des Kalten Krieges sollte Multilateralismus Kern einer „neuen Weltordnung“ jenseits der Großmachtkonflikte sein. Heute ist klar, dass die Großmachtkonflikte (insbesondere zwischen den USA und China) zentrale Rahmenbedingung für Multilateralismus sind. Und statt sich geräuschlos in die westlich geprägte Ordnung hinein zu fügen, wollen nicht westliche Staaten heute Einfluss auf multilaterale Regelbildung nehmen. Das gilt nicht nur für eine Großmacht wie China, die parallel die Gründung eigener multilateraler Institutionen wie der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) verfolgt. Auch kleinere nicht westliche Staaten wollen heute nicht nur Regelempfänger sein.
Hinzu kommt, dass multilaterale Vereinbarungen auch in Demokratien in wachsendem Maße unter innenpolitischen Beschuss geraten. Nationalismus und Souveränitäts-Absolutismus sind nicht nur Phänomene in Trumps Amerika. Erst kürzlich warnte Australiens Premierminister Scott Morrison vor einer „neuen Spielart des Globalismus, die globale Institutionen über die Autorität des Nationalstaats zu erheben sucht, um nationale Politik zu bestimmen“. Ähnlich wüten Ungarns Premier Orbán gegen das „Brüsseler Imperium“ oder andere Rechtsnationalisten gegen den UN-Migrationspakt.
Angesichts dieser neuen Rahmenbedingungen reicht es nicht mehr aus, den multilateralen Geist zu beschwören und den Nationalismus abzukanzeln. Doch genau dabei ließ es Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer von vielen so gefeierten Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar bewenden. Sie beschwor das „Prinzip des Multilateralismus“ als „Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg mit dem von Deutschland ja verursachten Nationalsozialismus“. Und sie schloss damit, dass „nur wir alle zusammen“ Antworten auf die großen Herausforderungen geben können.
Wie das jedoch funktionieren soll, wenn nicht alle so umstandslos mitspielen wollen wie nachdem Ende des Kalten Krieges erhofft, darauf blieb die Kanzlerin in München eine Antwort schuldig. Die von Außenminister Heiko Maas betriebene „Allianz für Multilateralismus“ geht weiter. Maas verfolgt mit der Initiative einen Dreiklang. Erstens will er internationale Normen und Vereinbarungen verteidigen, wo sie verletzt werden oder unter Druck geraten. Zweitens will er die bestehende Architektur reformieren, um sie inklusiver und effektiver zu machen. Und drittens will er multilaterale Vereinbarungen in Bereichen vorantreiben, die bislang nicht geregelt sind. Nichts davon ist ein Selbstläufer. Aber der Dreiklang gibt eine Richtung vor, wie man pragmatisch Multilateralismus unter schwierigen Bedingungen stärken kann.
„Die Alternative zum Multilateralismus ist Unilateralismus“
Nicht unbedingt. In ihrer Rede in München sagte die Bundeskanzlerin, es sei besser, zu „schauen, ob mangemeinsame Win-win-Lösungen erreicht, als zu meinen, alle Dinge allein lösen zu können“. In der Tat: Es liegt nah, Unilateralismus als Gegenpol zum Multilateralismus zu sehen. Und mit Blick etwa auf die US-Sanktionspolitik trifft das auch zu. Hier verfolgt die US-Regierung im nationalen Alleingang Sanktionen (etwa gegen den Iran), die eine direkte Wirkung auf Drittstaaten (wie die Mitglieder der EU) haben. Doch es ist eher der Bilateralismus, der vielen als attraktive Alternative gilt. Insbesondere Großmächte können ihre Macht vorteile bilateral voll ausspielen.
Das ist der Kern des Ansatzes von US-Präsident Donald Trump. Er will heraus aus multilateralen Vereinbarungen, welche die Supermacht in „schlechten Deals“ gefangen halten.
Und er setzt auf bilaterale Deals, besonders in der Handelspolitik. Hier sind der Zugang zum US-Markt und die Drohung mit Zöllen das Pfund, mit dem er wuchern kann. Auf diese Art hat Trump mit Mexikound Kanadadie Bedingungen für das nordamerikanische Freihandelsabkommen neu verhandelt. Ähnliches versucht er in den Verhandlungen mit China oder der EU. Auch die britische Regierung setzt nach einem Brexit auf bilaterale Handels abkommen, hat dazu jedoch weit weniger Marktmacht, was sie schon in laufenden Verhandlungen zu spüren bekam.
Anders China, dass eine Marktmacht immer selbstbewusster ausspielt. In ihren Reden präsentieren sich die Vertreter des Einparteienstaats als multilaterale Musterschüler. In Xis Poesie geht es um einen „neuen Typ der internationalen Beziehungen mit Win-win-Kooperation und Schaffung einer Gemeinschaft für die gemeinsame Zukunft der Menschheit“.
Die Realität sieht freilich anders aus. Xis Flaggschiffprojekt „Belt and Road Initiative“ setzt auf reinen Bilateralismus. Die beteiligten Staaten unterschreiben bilaterale Vereinbarungen mit Peking und kommen mit anderen Beteiligten nur zu jährlichen Show-Events in Peking zusammen.
Beim Bilateralismus geht es in der Regel um konkrete einzel- ne Vereinbarungen, spezifische Quid pro quos. Multilateralismus hingegen lebt von dem, was der Politikwissenschaftler Robert Keohane „diffuse Reziprozität“ genannt hat. Es bezeichnet den Glauben daran, dass sich die Vor- und Nachteile über einen längeren Zeitrahmen ausgleichen, auch wenn man in einzelnen Situationen den Kürzeren zieht.
Grundlage dafür ist, dass sich alle Beteiligten allgemeingültigen Prinzipien unterwerfen. Im Rahmen der Welthandelsorganisation ist das etwa das Meistbegünstigungsprinzip, wonach Handelsvorteile allen Vertragspartnern gewährt werden müssen. Fehlt der Glaube daran, dass sich Vor- und Nachteile irgendwann aus- gleichen, erodiert die Basis des Multilateralismus.
„Wir müssen die liberale internationale Ordnung verteidigen“
Welche Ordnung? Für viele geht es beim Multilateralismus in der Tat um die Verteidigung der „liberalen internationalen Ordnung“. Der US-Forscher John Ikenberry hat den Begriff in den 1990er Jahren geprägt. Heute verwenden ihn auch viele westliche Politiker. Doch der Begriff führt in die Irre. Für einige Zeit nach 1989 konnte sich der Westen der Illusion hingeben, dass man eine solche Ordnung global etablieren könnte. Doch heute ist klar, dass die Bedingungen dafür nicht gegeben sind. China und Russland werden sich in eine solche Ordnung ebenso wenig einfügen lassen, wie die Sowjetunion während des Kalten Krieges Teil einer „liberalen internationalen Ordnung“ war.
Verfechter des Konzepts vergessen gern, dass die liberale internationale Ordnung im Kalten Krieg eine begrenzte Ordnung war. NATO, GATT, OECD, G7 & Co. waren einem westlichen Club vorbehalten, wohingegen der Ostblock auf eigene Institutionen (wie den Warschauer Pakt und COMECON) setzte. Daneben gab es globale multilaterale Institutionen wie die Vereinten Nationen, in denen Staaten im Wettbewerbsmodus um Ordnung rangen.
Eine realistische Sichtweise geht auch heute von verschiedenen Zirkeln multilateraler Ordnung aus. Ein Zirkel umfasst die Kooperation liberaler Demokratien. Weitere Zirkel umfassen die multilaterale Zusammenarbeit mit Nichtdemokratien und Nicht- marktwirtschaften. Diese findet einerseits kompetitiv im Rahmen der Vereinten Nationen statt, einem Forum mit universeller Mitgliedschaft. Andererseits geht es um multilaterale Kooperation bei globalen Gemeinschaftsgütern wie der Bekämpfung von Pandemien oder der Klimakrise.
Bei diesen globalen Problemen ist es wenig sinnvoll, nach der inneren Verfasstheit zu unterscheiden. Liberale Demokratien und Marktwirtschaften müssen hier mit autoritär-staatskapitalistischen Regimen kooperieren.
Schwierig wird es dann, wenn es keine zwingende Notwendigkeit zur Zusammenarbeit gibt. Die derzeitigen Probleme der Welthandelsorganisation etwa sind zu einem großen Teil da- rauf zurückzuführen, dass die Organisation für die Zusammenarbeit von Marktwirtschaften geschaffen wurde – und für deren Interaktion mit schwächeren Entwicklungsländern. Für die Mitgliedschaft eines großen und volkswirtschaftlich starken autoritär-staatskapitalistischen Landes wie China dagegen ist sie nicht ausgelegt. Den restlichen Staaten (insbesondere den USA, aber auch in wachsendem Maße der EU) fehlt der Glaube an „diffuse Reziprozität“ im Umgang mit China innerhalb der WTO.
„Verflechtung führt zu Kooperation“
Nicht unbedingt. Wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit garantiere den Frieden, behauptete der britische Autor Norman Agnell im Jahr 1910 in seinem Buch „The Great Illusion“. Auch heute finden Spielarten des Arguments, dass Interdependenz Garant für Kooperation und damit Sicherheit und Frieden ist, viele Anhänger.
Die Politikwissenschaftlerin Annegret Bendiek etwa wendet sich gegen das EU-Bestreben nach Autonomie und befürwortet „strategische Verflechtung“ für ein Europa, das sich in einer Welt wachsender geopolitischer und geoökonomischer Spannungen bewegt. Die Verflechtung ermögliche ein „kooperatives Problemmanagement“ (also Multilateralismus) und erkenne „die Komplexität der Realität unter den Bedingungen der Globalisierung und Digitalisierung“ an. Sicherheit sei „Ergebnis eines komplexen Prozesses der Integration in den Bereichen Handel, Entwicklung, Klima, Digitalisierung oder Migration“. Es gebe gute Gründe anzunehmen, dass sich die Formel der europäischen Integration auch „auf die Schaffung von Sicherheit im globalen Kontext“ übertragen lasse.
Schön wäre es. Doch gibt es große Fragezeichen hinter diesen Annahmen. Die Rede von den „Bedingungen der Globalisierung und Digitalisierung“ übersieht, dass es einen Unterschied zwischen verschiedenen Feldern der Verflechtung gibt. Es gibt Herausforderungen wie den Klimawandel oder Pandemien, bei denen sich die Interdependenz aus der Natur des Problems ergibt und nicht gewählt ist.
Die meisten anderen Formen von Interdependenz „unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung“ sind dagegen die Folgen bewusster Entscheidungen zur wirtschaftlichen und technologischen Verflechtung. Und da stellt sich die Frage, ob dies in allen Fällen wirklich kooperationsfördernd ist. Konkret: Führt es zu mehr Kooperation mit
China, wenn Europa etwa bei 5G Technologie aus dem Reich der Mitte zum Einsatz bringt? Oder nährt das Misstrauen? Zudem gilt: Interdependenz ist selten perfekt symmetrisch. Staaten nutzen die Asymmetrien in den Abhängigkeiten gern als Druckmittel zur politischen Interessendurchsetzung. Die US-Politikwissenschaftler Abraham Newman und Henry Farrell bezeichnen dieses Phänomen als „weaponized interdependence“: Verflechtung als Waffe.
Deutschland und die EU tun also gut daran, zu prüfen, wo man Verflechtungen, Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten besser reduzieren kann. Das ist der Kern der Rede von der strategischen Autonomie. Es bedeutet aber nun gerade nicht– anders als Bendiek es nahelegt – eine „Abgrenzung von anderen“ im Sinne von Carl
Schmitts „klassischem Freund- Feind-Denken“. Im Gegenteil: Investitionen etwa in vertrauensbildende Maßnahmen und Rüstungskontrolle sollten verstärkt werden. Es bedeutet nur, sich von der großen Illusion zu verabschieden, dass wirtschaftliche und technologische Verflechtung immer kooperationsfördernd ist.
„Eine Allianz für Multilateralismus kann helfen, den Niedergang aufzuhalten“
Ja. Die von Deutschland und Frankreich maßgeblich betriebene „Allianz für Multilateralismus“ ist keine Allianz mit fester Mitgliedschaft, Satzung und Gremien. Sie ist ein Netzwerk, das je nach Problem in flexiblen Konfigurationen als Katalysator zur Stärkung des Multilateralismus fungieren kann. Sie ist kein Klub liberaler Demokratien, sondern steht je nach Thema auch Nichtdemokratien offen.
Außenminister Heiko Maas will möglichst viele „multilaterale Überzeugungstäter“ mobilisieren, gerade unter Staaten, die sich nicht als Teil des Westens verstehen. Um diese glaubwürdig anzusprechen, sollten Deutschland und Europa die Bereitschaft demonstrieren, auf überkommene Privilegien innerhalb multilateraler Institutionen zu verzichten.
Dieses Jahr hat Europa eine wichtige Chance verpasst. Als im Juli durch den Wechsel Christine Lagardes zur EZB der IWF-Chefsessel frei wurde, beeilten sich Frankreich und Deutschland zu bekräftigen, dass die nächste IWF-Chefin wieder eine Europäerin sein müsse.
Bundeskanzlerin Merkel etwa erklärte schnell, „dass es ein europäischer Anspruch ist, wieder den Präsidenten des IWF zu benennen“. Und sie zeigte sich voller Energie, für die Durchsetzung dieses Anspruchs einzustehen: „Die Welt hat sich verändert, und deshalb werden wir dafür auch kämpfen müssen.“ Europa war damit erfolgreich: Die Bulgarin Kristalina Georgieva wurde an die Spitze des IWF gewählt.
Doch der Preis dafür ist hoch. Mit ihrem Festhalten am IWF-Chef-sessel sendet Europa ein fatales Signal an Staaten von Argentinien über Mexiko bis Südafrika: Die Europäer wollen so lange wie möglich an Besitzständen festhalten, und ihre Pfründe verteidigen sie mit allen Mitteln. Gleichzeitig sollten die Initiatoren der Allianz für Multilateralismus das selbstgesetzte Ziel, internationale Regeln zu verteidigen, wo sie verletzt oder unter Druck gesetzt werden, ernst nehmen. Wenn also China kanadische Staatsbürger als Geiseln nimmt, um Druck auszuüben (wie geschehen mit Michael Spavor und Michael Kovrig, die seit vergangenem Dezember in Peking willkürlich inhaftiert sind), müssen die demokratischen Kernmitglieder der Allianz für Multilateralismus zusammenstehen.
Das widerspricht nicht der Notwendigkeit, bei anderen Themen wie Klimawandel, humanitäre Hilfe oder Rüstungskontrolle im Rahmen der Allianz mit China zusammenzuarbeiten.
Wichtig ist zudem, dass die Stärkung des Multilateralismus daheim beginnt. Nur wenige Deutsche sind laut einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung mit dem Begriff Multilateralismus vertraut. Gleichzeitig glaubt fast die Hälfte der Bevölkerung, dass Deutschland im Zuge der Globalisierung die Kontrolle über die Gestaltung seiner Politik verloren habe. Wie leicht Populisten dies ausschlachten können, hat die Diskussion um den UN-Migrationspakt gezeigt. Umso wichtiger ist es, öffentliche Überzeugungsarbeit dafür zu leisten, wie multilaterale Kooperation die Handlungsfähigkeit stärken kann.
„Wenn Trump nicht wiedergewählt wird, kehren wir 2020 zum multilateralen Status quo ante zurück“
Schön wär’s. Gerade die wohlige Rhetorik eines alten Bekannten wie Joe Biden nährt bei den europäischen Verbündeten die Hoffnung, dass eine Abwahl Trumps im kommenden Jahr eine Rückkehr in vertraute multilaterale Fahrwasser bedeutet.
Sicher ist: Ein Demokrat im Weißen Haus gibt Deutschland und Europa die Gelegenheit, einer neuen US-Regierung konkrete Angebote für Initiativen zur Reform und Stärkung des Multilateralismus zu machen.
Da wäre etwa die von den USA bislang verschleppte IWF-Quotenreform, um dort den weltwirtschaftlichen Gewichtsverschiebungen stärker Rechnung zu tragen. Auch ließe sich darüber sprechen, wie man eine gemeinsame Position der WTO gegenüber den Herausforderungen des chinesischen Staatskapitalismus finden könnte oder über neue Rüstungskontrollinitiativen.
Doch auch mit einer neuen Frau oder einem neuen Mann im Weißen Haus wird es keine Rückkehr zum Status quo ante geben. Deutschland gehörte in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges unter geringem eigenen Ressourceneinsatz zu den großen Profiteuren einer offenen Weltwirtschaftsordnung bei überschaubaren Sicherheitsrisiken. Diese Situation wird nicht wiederkehren.
Der liberale Ordnungskern im Westen wird auch nach Trump weiteren politischen Erschütterungen von innen durch illiberal-nationalistische Kräfte ausgesetzt sein. Dies wird nicht nur multilaterale Organisationen wie die EU und NATO vor Bewährungsproben stellen, es wird auch die multilaterale Politik maßgeblicher westlicher Staaten weiter beeinflussen.
So ist etwa die Opposition des französischen Präsidenten Macron gegen große multilaterale Handelsabkommen – etwa mit dem Wirtschaftsbündnis Mercosur – Ausfluss dieser Erschütterungen. Denn zu einem gerüttelt Maß ist sie der Angst vor der innenpolitischen Instrumentalisierung durch Rechts- und Linkspopulisten geschuldet.
Gleichzeitig werden die Spannungen zwischen dem Westen und autoritären Staaten wie China und Russland weitergehen. Multilateralismus in globalen Foren wie den Vereinten Nationen wird immer umkämpfter werden, weil nicht nur bei den Menschenrechten sehr unterschiedliche Vorstellungen aufeinanderprallen.
Deutsche und europäische Diplomatie muss sich schlagkräftiger aufstellen für diesen Wettbewerb; dasselbe gilt für NGOs und Unternehmen. Zudem muss die deutsch-französische Allianz für Multilateralismus sich dafür einsetzen, dass das UN-Sekretariat eine verlässliche Finanzierung hat und nicht (wie in diesem Herbst) durch säumige Beitragszahler gelähmt wird.
Deutschland und Europa müssen sich also auf viel schwierigere Bedingungen für Multilateralismus auf allen Ebenen einstellen. Das heißt zum einen, die Bemühungen der Allianz für Multilateralismus zu verstärken oder in schwierigen Bereichen wie der Rüstungskontrolle neue Anläufe zu unternehmen. Das heißt zum anderen, Kontingenzplanung zu betreiben, wie Deutschland und Europa mögliche Erschütterungen der multilateralen Ordnung überstehen können.
Uri Dadasch und Guntram Wolff vom Brüsseler Institut Bruegel legten Anfang des Jahres eine Studie zu einer „Welt ohne die WTO“ vor. Das taten sie allerdings ausdrücklich nicht, um eine solche Welt zu befördern. Sondern, damit wir uns besser auf das Schlimmste vorbereiten können – und uns klarer werden, was wir in die Waagschale werfen müssen, um es zu verhindern.
Wir brauchen viel mehr solcher Übungen, auch in anderen Bereichen.
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This commentary was originally published in the November/December 2019 edition of Internationale Politik (download). An English version is available.