Lasst Nichteuropäern den Vortritt
Europas Spitzenpolitikerinnen und ‑politiker setzen alles daran, um den Internationalen Währungsfonds (IWF) auch zukünftig in europäischen Händen zu halten. Auf dem Treffen der G7-Finanzminister im französischen Chantilly, das am Mittwoch beginnt, könnten die europäischen Minister ihren Kandidaten für die Nachfolge von Christine Lagarde bekannt geben – aber das wäre ein gravierender Fehler. Besser wäre, Europa gäbe seinen Anspruch auf die Besetzung des IWF-Chefsessels mit einem Europäer oder einer Europäerin ganz auf.
Es beschädigt Europas Bild in der Welt, auf einem aus der Zeit gefallenen Privileg zu bestehen. Stattdessen sollten die EU-Staaten einen offenen Auswahlprozess unterstützen, um einen herausragenden Nichteuropäer für die IWF-Spitze zu gewinnen. In zehn Jahren können dann auch wieder qualifizierte Europäer ins Rennen gehen.
Seit 1946 kamen sämtliche elf Männer und Frauen auf dem IWF-Chefsessel aus Europa. Es ist das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen Europa und den USA, die im Gegenzug das Vorrecht beanspruchen, das Amt des Weltbank-Präsidenten zu besetzen. Als Anfang Juli klar wurde, dass IWF-Chefin Lagarde im Herbst aller Voraussicht nach zur Europäischen Zentralbank wechseln wird, zögerten Frankreich und Deutschland nicht, ihren Anspruch auf Benennung des Nachfolgers oder der Nachfolgerin zu verteidigen.
Der französische Finanzminister Bruno Le Maire erklärte, es sei im “europäischen Interesse, die Führung des IWF zu behalten”. Er drängte auf eine schnelle innereuropäische Einigung auf einen einzigen Kandidaten “ohne nutzlose Rivalitäten”. Bundeskanzlerin Angela Merkel bekräftigte, “dass es ein europäischer Anspruch ist, wieder den Präsidenten des IWF zu benennen”. Und sie zeigte sich voller Energie, für die Durchsetzung dieses Anspruchs einzustehen: “Die Welt hat sich verändert, und deshalb werden wir dafür auch kämpfen müssen.”
Selten war der zuletzt stotternde deutsch-französische Motor in jüngster Zeit in der EU so einig und entschlossen, selten wusste er den Rest der EU für sich zu gewinnen. Diesmal gelang es, nur leider für die falsche Sache. Die Bewahrung des Anspruchs auf die Besetzung der IWF-Spitze untergräbt Europas Glaubwürdigkeit als Unterstützer einer fairen multilateralen Ordnung. Vor zehn Jahren, beim G20-Treffen in London im April 2009, verpflichteten sich Europa und die USA, “dass die Leiter und das Führungspersonal der internationalen Finanzinstitutionen durch einen Auswahlprozess bestimmt werden sollten, der auf Offenheit, Transparenz und Eignung setzt”.
Im Klartext: Die Europäer und Amerikaner gaben damals das Privileg auf, die Chefs des IWF und der Weltbank aus den eigenen Reihen zu bestimmen. Staaten, die in den Vierzigern nichts abbekommen hatten, als Europa und die USA die internationalen Finanzinstitutionen unter sich aufteilten, war dieses Vorrecht schon lange ein Dorn im Auge. Endlich schienen die transatlantischen Partner dem Rechnung zu tragen.
Doch in den vergangenen zehn Jahren haben Europa und die USA das Versprechen von London immer wieder gebrochen. Im Jahre 2011 hievte die Europäische Union Christine Lagarde auf den IWF-Chefsessel. Fünf Jahre später sorgte sie für ihre Wiederwahl. Die USA bestimmten weiter den Weltbank-Präsidenten. Anfang dieses Jahres, als Weltbank-Chef Kim seinen Rücktritt bekannt gab, zuckte die Trump-Regierung nicht mit der Wimper und ließ David Malpass vom US-Finanzministerium an die Weltbankspitze wechseln.
Sicher, die Frage scheint berechtigt: Warum sollte sich Europa um ein zehn Jahre altes Versprechen scheren in einer Welt, die heute von skrupellosen Gestalten wie Donald Trump, Xi Jinping und Wladimir Putin dominiert wird? Und die Erwartung wäre verkehrt, das Weiße Haus, der chinesische Parteistaat und der Kreml könnten sich im Gegenzug dankbar und wohlwollend zeigen. Doch sie sind hier gar nicht das relevante Publikum – sondern die Staaten von Argentinien über Mexiko bis Südafrika, die weder Teil des alten transatlantischen Clubs sind noch Großmächte.
Von diesen Staaten aber gibt es viele, und genau sie will Europa doch als Verbündete gewinnen, um multilaterales Vorgehen gegen die Großmächte zu verteidigen, die ihren geopolitischen und geoökonomischen Vorteil durch Zwang und Druck verfolgen. Dazu hat Deutschland gemeinsam mit Frankreich die Allianz für Multilateralismus ins Leben gerufen, um “mit Partnern weltweit ein Netzwerk von Gleichgesinnten zu knüpfen” und “die regelbasierte Weltordnung zu stabilisieren, ihre Prinzipien zu wahren und dort, wo notwendig, auch an neue Herausforderungen anzupassen”.
Das ist eine gute Idee. Aber wer behauptet, für einen “repräsentativeren” Multilateralismus einzustehen, wie Deutschland und Frankreich es tun, der muss seinen Worten auch Taten folgen lassen, um glaubwürdig nicht westliche Partner gewinnen zu können.
Da trifft es sich nur allzu gut, dass es auf dem Papier schon seit 2016 Vorgaben gibt, um die IWF-Spitze in einem offenen und meritokratischen Verfahren zu besetzen. Demnach können der Aufsichtsrat und die Direktoren des Weltwährungsfonds Kandidaten und Kandidatinnen aus den Mitgliedsstaaten benennen. Europa sollte sich dafür einsetzen, dieses Verfahren endlich anzuwenden, und danach jene Person unterstützen, die am überzeugendsten für eine Stärkung des IWF einzutreten verspricht.
Im Rahmen der Auswahlgespräche sollten europäische Vertreter die Bewerber auch danach befragen, wie sie eine sich vertiefende Krise in der Eurozone, etwa ausgelöst durch Italien, handhaben würden. Das ist höchst relevant aus europäischer Sicht, war das Griechenland-Programm doch das größte in der Geschichte des IWF.
Doch das Argument, dass es deshalb jemanden aus Europa an der IWF-Spitze benötigt, das Merkel 2011 ins Feld führte, ist abwegig. Denn während der lateinamerikanischen oder asiatischen Finanzkrisen hat auch kein Europäer verlangt, ein IWF-Chef aus der betroffenen Region müsse die bitteren Reformen, die der Währungsfonds verlangte, dort verantworten.
Die Welt hat sich in der Tat verändert, wie Angela Merkel vergangene Woche bemerkte. Doch die Kanzlerin scheint die Veränderungen nicht ganz verstanden zu haben – und auch nicht, wie darauf zu reagieren ist. Mit ihrem Kampf für jemanden aus Europa auf dem IWF-Chefsessel senden Deutschland und Frankreich ein fatales Signal: Die Europäer wollen so lange wie möglich an überkommenen Besitzständen festhalten, und ihre Pfründe verteidigen sie mit allen Mitteln.
Dass nicht westliche Staaten zu uneinig sind, um einen gemeinsamen Gegenkandidaten zu präsentieren, sollte Europa nicht als Zustimmung missverstehen. Schon 2011 sagte der ehemalige südafrikanische Finanzminister Trevor Manuel, dass “man viel mehr hätte tun können und sollen, um die Europäer davon zu überzeugen, dass dieses Geburtsrecht kein Geburtsrecht ist”. Deshalb wäre es jetzt an der Zeit für Europa, entsprechend zu handeln.
Die EU muss in strategische Autonomie investieren, um ihre Interessen in einer gegenüber Europas Prinzipien immer feindseligeren Welt verteidigen zu können. Gleichzeitig sollte sie überkommene Privilegien wie den Anspruch auf den IWF-Chefsessel aufgeben. Es wäre eine überfällige Investition in Europas Glaubwürdigkeit auf der globalen Bühne.
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This commentary war originally published by ZEIT ONLINE on July 16, 2019. An English version is available here.