Die romantischen Jahre sind vorbei
Im Sommer 2016 habe ich unter dem Titel „Merkels China-Illusion“ die drei Fehlannahmen deutscher China-Politik kritisiert: dass Deutschland und China wirtschaftlich komplementäre Partner sind, dass China sich innenpolitisch liberalisiert und sich als „verantwortlicher Teilhaber“ in internationale Institutionen einbringt sowie dass Deutschlands enge bilaterale Beziehungen für den Rest Europas von Vorteil sind. Heute könnte ich ein solches Stück nicht mehr schreiben. In den letzten beiden Jahren hat sich die Regierung von allen drei Annahmen verabschiedet.
Die Bundesregierung sieht China jetzt als staatskapitalistisch organisierten Wettbewerber, der mit seiner „Made in China 2025“-Strategie der deutschen Industrie die Butter vom Brot nehmen will und gleichzeitig die Vorherrschaft im Bereich Künstliche Intelligenz anstrebt. Statt das Land zu öffnen, mache der neue Dauerpräsident Xi Jinping gefährliche Anleihen bei den Repressionsmethoden der Mao-Ära mit den neuen Möglichkeiten des digitalen Überwachungsstaates. China höhle bestehende internationale Institutionen von innen aus und umgehe diese gleichzeitig durch den Aufbau von Parallelinstitutionen. Es verhalte sich zunehmend aggressiv in seiner eigenen Nachbarschaft, etwa im Südchinesischen Meer. Man mache es China zu leicht, Europa zu spalten, so die neue Sichtweise. Kurz: In Berlin hat man ein Sensorium für die Machtpolitik des Parteistaats entwickelt.
Wer – wie Deutschland – bilaterale Regierungskonsultationen mit der chinesischen Regierung pflegt, braucht sich nicht wundern, wenn auch andere Staaten ihre bilateralen Kanäle ausbauen wollen. Und kleinere Staaten haben dafür keine andere Möglichkeit, als dies gebündelt in dem vom China organisierten 16+1‑Format zu tun. Ja, Deutschland blickt immer noch zu stark mit einer wirtschaftlichen und nicht mit einer politisch-geostrategischen Brille nach China und Asien. Das schmälert jedoch nicht die Tatsache, dass in den letzten beiden Jahren ein großes Umdenken der Top-Entscheider in der Regierung (sowohl in den Ministerien als auch im Parlament) stattgefunden hat. Dieses manifestiert sich etwa in verschärften Investitionsschutzgesetzen und einer erhöhten Wachsamkeit gegenüber den Bemühungen des chinesischen Parteistaates, in Deutschland und Europa Einfluss zu nehmen.
Dieser Kursschwenk zeigt, dass die maßgeblichen Stimmen, welche die Regierung zur Beratung heranzieht, nicht die von Didi Kirsten Tatlow zurecht kritisierten KP-Versteher sind. Tatlow erwähnt eine jüngere Generation, die oft kritischer sei, aber kaum Gehör finde. Das unterschätzt nach meiner Beobachtung deren Rolle. Das junge Team von MERICS sowie andere exzellente Chinaforscher haben besseren Zugang zu den relevanten Entscheidungsträgern als die meisten KP-Versteher. In manchen Fällen haben Entscheidungsträger deren Expertise (etwa bei der Neufassung der Investitionsschutzregeln) sehr konkret in Anspruch genommen. Viele von diesen Chinaforschern verstehen sich nicht als klassische Sinologen. Sie haben oft in anderen Disziplinen ihre wissenschaftliche Heimat, sehen China in vergleichender Perspektive und nicht als Exzeptionalismus und legen Wert auf die Politikrelevanz ihrer Arbeit. Eine zentrale Rolle spielen auch die Berichterstatter unserer Qualitätsmedien in China, die fast ausschließlich einen machtpolitisch geschärften und sicher nicht spätorientalistisch verklärten Blick haben.
Die oft jüngeren Chinaforscher*innen und die Journalisten sind es auch, die das China-Bild der breiteren außenpolitischen Community beeinflussen. China ist zu allgegenwärtig, als dass es die alleinige Domäne der Sinologen bleiben könnte – schließlich überlassen wir die Außenpolitik gegenüber den USAauch nicht den Amerikanisten. Der Unterschied ist, dass ein großer Teil der deutschen außenpolitischen Elite in den USA sozialisiert wurde oder zumindest die Sprache spricht und eigene Kanäle in die amerikanische Gesellschaft unterhält. Kaum jemand käme da auch nur auf die Idee, auf einen Amerikanisten zurückzugreifen.
Bei China ist das anders. Vergleichsweise wenige in der deutschen außenpolitischen Elite haben in China gelebt und sprechen die Sprache. Insofern spielen Chinaforscher eine wichtige Rolle. Ich etwa profitiere enorm von der Expertise der jüngeren Generation von deutschen wie ausländischen Chinakenner*innen. Sie haben meine eigenen Positionen zu China mitgeformt. Und ich habe an dieser Generation über die letzten zehn Jahre hinweg beobachten können, wie sich ihr Blick auf den chinesischen Parteistaat verändert hat. Ihre Grunderfahrung in China waren die Jahre der relativen Öffnung und die Hoffnung auf eine zunehmende wirtschaftliche und gesellschaftliche, wenn auch nicht politische Liberalisierung. Umso sensibler reagiert diese jüngere Generation auf die zunehmenden Verhärtungen des chinesischen Parteistaats. Die jüngeren Chinaforscher*innen haben einen sehr klaren Blick für die Machtpolitik des KP-Apparates – nach innen wie nach außen. Und sie verstehen sehr gut, welche Rolle moderne Technologien bei der Perfektionierung der Repression spielen.
Die von Didi Kirsten Tatlow zu Recht kritisierten Sinologen, welche blind gegenüber der Machtpolitik des KP-Staates sind, gibt es aber durchaus. Der Grund für diese Blindheit ist jedoch nicht allein der „Exotismus“, den Tatlow als Grundlage des Spätorientalismus ausmacht. Diese Art von Spätorientalismus lässt sich oft vor allem bei Wissenschaftlern beobachten, die wenig Erfahrung mit China, aber jetzt wegen des chinesischen Aufstiegs vermehrt mit dem Parteistaat und chinesischen Forschern und Studenten zu tun haben. Spätorientalismus gibt diesen Wissenschaftlern eine Orientierung. China ist eben „anders“. Kulturrelativismus erleichtert das Gewissen, wenn man mit repressiven Parteistaatsstrukturen zu tun hat. Unter Sinologen gibt es zudem einige weitere Faktoren, die diese zu bewussten oder unbewussten KP-Verstehern machen.
Ein Faktor ist die Grunderfahrung einer älteren Generation von Sinologen. Für viele ist das China der Kulturrevolution die Grunderfahrung – und auch Messlatte für das gegenwärtige China. Alles, was nicht so schlimm ist wie die Auswüchse unter Mao, kann so problematisch nicht sein, so der Blick auf die heutige Situation. Ein Bespiel dafür ist Thomas Heberer von der Universität Duisburg-Essen. Über seine eigenen Prägungen hat er in einem höchst aufschlussreichen Interview mit dem chinesischen Staatsmedium People’s Daily berichtet. Heberer ist beseelt von den rapiden Fortschritten Chinas seit der Öffnung vor 40 Jahren und der Lernfähigkeit seiner Herrscherelite. Entsprechend blind ist sein Blick für die gegenwärtigen politischen Entwicklungen. Gefragt nach den Fortschritten, die er in China in der nächsten Dekade erwartet, nennt er qualitatives Wachstum, Armutsbeseitigung, Umweltverbesserungen und ein industrielles Upgrade. Und weil er vielleicht das flaue Gefühl hat, dass das doch nicht alles sein kann, schiebt er noch nach: „Fünftens, und das ist mehr eine Hoffnung von mir, dass sich China auch stärker an internationalen Normen orientiert und zu einem verlässlichen Partner in der Weltpolitik wird.“ In dem gesamten Interview kein einziges Wort zur Machtpolitik des Parteistaats nach innen und nach außen.
Ein damit verbundener zweiter Faktor ist Machtblindheit aus Angst vor Generalisierung und Schwarz-Weiß-Malerei. China ist eine diverse Gesellschaft, kein Monolith. Darauf weisen Sinologen mit Recht hin. Heberer tut dies auch: „China ist nicht einfach ein einheitliches Gebilde, über das man generelle und verallgemeinernde Aussagen machen kann. Hier gibt es vielfältige Unterschiede von Provinz zu Provinz, von Bezirk zu Bezirk und von Landkreis zu Landkreis.“ Das sollte einen Sinologen jedoch nicht davon abhalten, die Machtpolitik der Zentralregierung in ihren Auswirkungen nach innen und außen in den Blick zu nehmen. Viele der KP-Versteher unter den Sinologen richten es sich bequem in ihrer Begeisterung über die Diversität der Gesellschaft ein. Das ist ungefähr so, als würde sich ein Deutschlandforscher weigern, Aussagen darüber zu treffen, ob die Eurozonenpolitik der Bundesregierung schädlich oder nützlich für den Rest Europas ist, nur weil es Unterschiede zwischen den Landkreisen Arnsberg und Potsdam-Mittelmark gibt.
Drittens spielen bei einigen unbewußten KP-Verstehern andere außenpolitische Überzeugungen eine Rolle, etwa eine starke Ablehnung der USA. Frank Pieke etwa, der neue MERICS-Direktor, sprach in einem Interview mit der chinesischen Nachrichtenplattform Jiemian davon, dass wir uns vom dem Konzept des „Westens“ verabschieden sollten. Die Vorstellung von einer Äquidistanz Europas gegenüber China und Amerika, von der Pieke Anfang September bei der MERICS China Lounge redete, mag hier ihren Ursprung nehmen.
Viertens geht es auch um handfeste Karriereanreize. 2010 schon ergründete Kai Strittmatter in der Süddeutschen Zeitung das Schweigen der deutschen Sinologen nach der Verleihung des Nobelpreises an den Dissidenten Liu Xiaobo. Die chinesische Autorin Dai Qing mutmaßte zu den Gründen: „Ich tippe mehr auf menschliche Schwäche denn auf fehlende Intelligenz. Chinas Einfluss wächst rasant. China hat Geld. Als deutscher Wissenschaftler, der es sich mit dem Regime nicht verdirbt, kann man es sich hier gut gehen lassen: Forschungsgelder und Ehrendoktortitel, die gibt es hier im Überfluss.“ In anderen Worten: Man kann sich ein schönes kleines Imperium aufbauen in der Forschungskooperation mit China. Und zunehmend ist dafür Voraussetzung, dass man sich gut stellt mit den Herrschenden. Der Vizepräsident der Freien Universität, Klaus Mühlhahn, ist so ein Fall. In einem Interview mit People’s Daily zu chinesischen Universitäten gibt er seiner Begeisterung über die „dynamische Entwicklung des chinesischen Wissenschaftssystems“ Ausdruck. „China arbeitet heutzutage in manchem [sic] Gebieten auf einem weltweiten Spitzenniveau“, so Mühlhahn. Es findet sich kein kritisches Wort zur Reideologisierung und zunehmender Überwachung an Top-Hochschulen wie der Peking-Universität (Beida). Mühlhahn lobt die Partnerschaft in den höchsten Tönen und malt eine rosige Zukunft. In der Realität wurde gerade ein Kader aus der Staatssicherheit zum Partei-Überwacher der Beida ernannt.
Diese Faktoren bewegen einige Sinologen, bewusst oder unbewusst zu KP-Verstehern zu werden. Sie leisten oft wertvolle Forschungsbeiträge, die bisweilen durchaus einen kritischen Blick auf Einzelaspekte von Staat und Gesellschaft werfen. Doch für die Gesamtheit der Machtpolitik des Parteistaats nach innen wie außen sind sie blind. Gleichzeitig ist ihr Einfluss auf deutsche China-Politik begrenzt. Heberer etwa reiste mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck nach China und war Teil einer Delegation Nordrhein-Westfalens beim Besuch der Huawei-Zentrale. Aber die deutsche Chinapolitik hat er in den letzten Jahren nicht wesentlich informiert oder gar geprägt. Entsprechend frustriert äußert sich Mühlhahn in dem Interview mit People’s Daily über den mangelnden Einfluss der Sinologen, die seine Weltsicht teilen: „Meine Klage und meine Unzufriedenheit richten sich allerdings darauf, dass die Sinologie häufig von Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft oder in den Medien nicht wirklich wahrgenommen wird.“
Das könnte sich in den nächsten Jahren jedoch ändern. Der Kurswechsel der Chinapolitik war eine Entscheidung in Elitenzirkeln, die nicht breit diskutiert wurde. Wir haben in Deutschland bislang keine große Diskussion zur Chinapolitik gehabt. Anders als bei der Russlandpolitik sind große Teile der Öffentlichkeit mit Blick auf China noch nicht politisiert. In einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung geben sich 46 Prozent der Deutschen „neutral“, wenn sie nach ihrer Meinung zum zunehmenden Einfluss Chinas gefragt werden.
In Deutschland steht uns jedoch wahrscheinlich unter transatlantischen Vorzeichen bald eine große öffentliche China-Diskussion ins Haus. Die Trump-Regierung treibt, mit Unterstützung beider Parteien, eine Politik der Entkopplung der Wirtschaften des Westens und Chinas voran – mit Blick auf den Hochtechnologiesektor und darüber hinaus. Dafür übt die US-Regierung zunehmend Druck auf die Verbündeten in Europa aus. Dies wird früher oder später zu einer großen öffentlichen Kontroverse führen.
Für diese läuft sich jetzt schon Gerhard Schröder warm, der sich bislang vor allem als Fürsprecher des Kreml-Staatskapitalismus einen Namen gemacht hat. Nun scheint er sich auch als Steigbügelhalter des KP-Staatskommunismus in Spiel zu bringen. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters sagteer, dass er nicht verstehe, was man gegen chinesische Investitionen in Europa haben könne. Anders als die US-amerikanischen Heuschreckeninvestoren brächten die Chinesen zumindest einen Absatzmarkt mit. Und auf die Repression und die Lager in Xinjiang angesprochen, befand der Altkanzler, dass er bei dieser Frage vorsichtig sein müsse, „weil ich keinerlei Informationen habe“.
Wenn es zu einer großen China-Diskussion in Deutschland kommt, wird es mehr Stimmen à la Schröder geben. Und die Nachfrage nach den KP-Verstehern unter den Sinologen als Cheerleader des Parteistaats wird steigen. Grund genug, noch stärker in politikrelevante Chinaexpertise außerhalb der klassischen Sinologie zu investieren. Wir müssen China, den Parteistaat und seine Bedeutung für uns, im besten Sinne des Wortes, verstehen.
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This commentary was originally published by the Zentrum Liberale Moderne on December 18, 2018.